Taqwa (Frömmigkeit)

Taqwa leitet sich aus dem arabischen Wort wiqaya (Selbstver-teidigung und Vermeidung) ab. In der Sprache des Sufismus bezeichnet taqwa (Frömmigkeit) das ,Sich-Schützen des Menschen vor der Strafe Gottes', indem er Seine Gebote befolgt und sich an Seine Verbote hält.

Während taqwa im literarischen und technischen Kontext noch über weitere Konnotationen verfügt, werden in religiösen Schriften die Begriffe Furcht und Frömmigkeit zum Teil synonym verwendet.

Taqwa ist in der Tat ein sehr inhaltsreiches Wort. Es bedeutet, dass der Gläubige die Gebote der Scharia und die Gesetze Gottes für die Natur und das Leben strikt befolgt und deshalb bei Gott Zuflucht vor einer Bestrafung durch Gott sucht. Er unterlässt Taten, die ihn ins Höllenfeuer führen würden, und tut alles dafür, ins Paradies einzugehen. Er reinigt seine äußeren und inneren Sinne von allem, was neben Gott stehen könnte, und vermeidet es, Ungläubige in Weltsicht und Lebensstil zu imitieren.

In ihrer umfassendsten Bedeutung ist taqwa der einzige Maßstab für Würde und Wert des Menschen. Der Vers Wahrlich, vor Allah ist von euch der Angesehenste, welcher der Gottesfürchtigste ist.[1] gibt darüber Aufschluss.

In keinem anderen Buch außer dem Koran und in keinem anderen System als im Islam findet sich ein Wort wie taqwa, das eine so unglaubliche Tragweite besitzt und das das Spirituelle ebenso wie das Materielle beinhaltet - ein Wort, dessen Wurzeln in der Welt verankert sind, seine Zweige, Blätter, Blüten und Früchte jedoch im Jenseits. Taqwa ist ein faszinierendes, wundervolles Wort; ohne sich mit ihm beschäftigt zu haben, kann man weder den Koran verstehen, noch dem zu taqwa gehörigen Verb - fromm sein (muttaqi) - entsprechen. Schon einer der ersten Koranverse öffnet dem Frommen die Tür:

Dies ist (ganz gewiss) das Buch (Allahs), das keinen Anlass zum Zweifel gibt, (es ist) eine Rechtleitung für die Gottesfürchtigen.[2]

Der Koran ruft die Menschen auf, so zu leben, wie er es vorsieht. Denn nur dann seien die Menschen überhaupt erst in der Lage, fromm zu sein:

O ihr Menschen, dient eurem Herrn, der euch und diejenigen vor euch erschaffen hat, damit ihr gottesfürchtig sein möget.[3]

Das schönste Geschenk an Gott ist die Frömmigkeit; die reinsten Diener Gottes sind die Frommen. Der Koran mit seiner einzigartigen Ausdruckskraft ist eine makellose Botschaft an die Frommen im Namen der Frömmigkeit. Fromme Menschen werden auf Erden mit dem Koran belohnt, im Jenseits dann mit dem Anblick Gottes und Seinem Wohlgefallen. Die Freude, die jemand in Bewusstsein und Geist empfindet, ist ein Geschenk der Frömmigkeit an uns; um uns den Wert der Frömmigkeit immer wieder ins Gedächtnis zu rufen, sagt der Allmächtige:

O ihr, die ihr glaubt, fürchtet Allah in geziemender Furcht, und sterbt nicht anders denn als Muslime.[4]

Durch Frömmigkeit im Sinne von ,von allen Möglichkeiten, Gutes zu tun, Gebrauch machen und zumindest versuchen, sich von allem Schlechten fern zu halten' wird der Mensch davor bewahrt, in die tiefsten Tiefen hinabzufallen; stattdessen schreitet er auf dem Weg zu den höchsten Höhen voran. Darum lässt sich festhalten, dass jemand, der Frömmigkeit erlangt, die Quelle alles Guten und aller Wohltaten gefunden hat. Die folgenden Verse, zitiert aus dem Gulschan at-Tawhid (Der Rosengarten des Glaubens an die Einheit Gottes) unterstreichen dies:

„Wem auch immer Gott Religion und Frömmigkeit gegeben hat,
Der hat seine Ziele in dieser Welt und in der nächsten erreicht.
Wer auch immer ein Soldat Gottes und der Frömmigkeit ist,
Der ist wohlhabend und recht geleitet, nicht unglücklich.
Wer auch immer Frömmigkeit keinen Wert zumisst,
Dessen Existenz ist nichts als Schmach und Schande.
Wer sich nicht um die Wahrheit bemüht, ist nicht wirklich am Leben;
Nur jemand, der seinen Weg zu Gott gefunden hat, ist wahrhaftig lebendig.

Die Frömmigkeit ist ein unermesslich wertvoller Schatz; sie ist ein unvergleichliches Juwel unter Edelsteinen, ein mysteriöser Schlüssel zu allen Türen des Guten und ein Weg, der ins Paradies führt. Weil sie so wertvoll ist, erscheint sie an der Seite vieler anderer Leben spendender Begriffe einhundertfünfzig mal im Koran. Damit kommt sie daher wie Strahlen eines Lichts, das Geist und Seele durchdringt.

Jeder weiß, was Frömmigkeit oberflächlich betrachtet bedeutet; taqwa steht jedoch für mehr: Sie beinhaltet, darauf bedacht zu sein, den Geboten der Scharia Rechnung zu tragen und alles daran zu setzen, sich nicht zu Handlungen hinreißen zu lassen, die die Strafe Gottes nach sich ziehen. Zwei Koranverse beziehen sich auf jeweils einen der beiden Aspekte dieser grundlegenden religiösen Tugend: und (für jene, die) die schwersten Sünden und Schändlichkeiten meiden...[5] und Jene jedoch, die da glauben und gute Werke tun...[6]

Strikte Befolgung der verbindlichen religiösen Pflichten und das Unterlassen von größeren Sünden sind die zwei grundlegenden und sich einander ergänzenden Fundamente der taqwa. Was kleinere Sünden, die der Koran lamam (Fehltritte) nennt, betrifft, so gibt es viele Aussprüche des Propheten, die die Menschen vor ihnen warnen, z.B.:

Ein Diener kann nur dann wahrhaft fromm sein, wenn er auch gewisse erlaubte Dinge unterlässt, um keine Risiken einzugehen.[7]

Vollkommene Aufrichtigkeit und Reinheit der Absicht können dadurch erlangt werden, dass man vermeidet, Gott irgendwelche Partner zuzuordnen; vollkommene Frömmigkeit erarbeitet man sich dadurch, dass man auf fragwürdige oder riskante Handlungen verzichtet. Der folgende Satz des Propheten besagt, dass ein wirklich rechtschaffenes und spirituelles Leben voraussetzt, in zweifelhaften Dingen vorsichtig zu sein: Rechtmäßiges und Verbotenes sind klar zu unterscheiden. Zwischen diesen beiden aber gibt es Dinge, bei denen die meisten Menschen nicht genau sagen können, ob sie nun rechtmäßig oder verboten sind. Dieser Tradition ist zu entnehmen, dass der ,Gesetzgeber' der Scharia klar definiert hat, was rechtmäßig ist und was verboten. Daneben jedoch gibt es viele Dinge, über deren Rechtmäßigkeit die Menschen im Unklaren sind; nur diejenigen, die sich von zweifelhaften Dingen fern halten, sind in der Lage, ein wirklich religiöses Leben zu führen. In Fortsetzung der oben zitierten Tradition führt der Prophet ein Gleichnis an:

Jemand, der etwas Fragwürdiges tut, wird wahrscheinlich etwas Verbotenes tun. Die Herde eines Schäfers, die neben dem Feld eines anderen oder neben einem Feld, das der Öffentlichkeit gehört, grast, wird dieses Feld mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit betreten. Wisset, dass jeder König einen privaten Bereich hat; die verbotenen Dinge sind der private Bereich Gottes. Wisset auch, dass es in jedem Körper einen bestimmten Teil Fleisch gibt. Ist dieser gesund, wird der ganze Körper gesunden, ist er aber krank, wird auch der ganze Körper krank werden. Dieser Teil ist das Herz.[8]

Im Lichte dieser Grundregel für ein spirituelles Leben wird deutlich, dass man vollkommene Frömmigkeit verwirklicht, indem man fragwürdige Dinge und kleine Fehltritte meidet. Um sie aber meiden zu können, muss man erkennen können, was rechtmäßig und was verboten ist, und ein bestimmtes Maß an Wissen um Gott besitzen. Eine Verbindung von Frömmigkeit und Wissen finden wir in den beiden Koranversen:

Wahrlich, vor Allah ist von euch der Angesehenste, welcher der Gottesfürchtigste ist (der Fortgeschrittenste, was seine taqwa betrifft).[9]

und

Wahrlich, nur die Wissenden unter Seinen Dienern fürchten Allah.[10]

Frömmigkeit verschafft uns Ehre und Würde, Wissen führt uns zu Furcht und Ehrerbietung gegenüber Gott. Diejenigen, in deren Herzen Frömmigkeit und Wissen eine Allianz eingehen, werden im Koran als Menschen bezeichnet, die den ,Frömmigkeitstest' bestanden haben:

...sind es, deren Herzen Allah zur Gottesfurcht geläutert hat.[11]

Im Kontext von Verehrung und Gehorsam definiert sich Frömmigkeit über Reinheit des Herzens, spirituelle Weisheit und Aufrichtigkeit; wird taqwa in Verbindung mit dem Unterlassen von Sünden erwähnt, bedeutet es, sich entschieden zu haben, keine Sünden zu begehen und sich fragwürdiger Dinge zu enthalten. Daher darf jeder der folgenden Punkte als ein Aspekt von Frömmigkeit betrachtet werden:

1. Ein Diener Gottes darf ausschließlich Seine Anerkennung und Sein Wohlgefallen anstreben. Das Herz dieses Dieners darf sich ausschließlich mit Ihm beschäftigen.

2. Ein Diener Gottes muss alle Gebote der Scharia beachten.

3. Er muss alles daran setzen, seine Ziele selbstständig zu erreichen, gleichzeitig aber davon überzeugt sein, dass letztlich nur Gott die Durchsetzung dieser Ziele bewirken wird. Er darf also weder wie ein Fatalist denken und handeln, der sich nicht darum schert, etwas für das Erreichen seiner Ziele zu tun und die nötigen Mittel gegen mögliche Unglücke oder Niederlagen zu ergreifen, noch wie ein mu'tazili (ein reiner Rationalist und Positivist), der alle Handlungen und Leistungen des Menschen nur dem Menschen selbst zuschreibt und Gottes Anteil daran abstreitet.

4. Er muss gegenüber allem, was ihn von Gott fern halten könnte, wachsam sein.

5. Er muss sich vor fleischlichen Gelüsten hüten, die ihn dazu verleiten könnten, Verbotenes zu tun.

6. Er muss all seine ,eigenen' materiellen und spirituellen Leistungen Gott widmen.

7. Er darf sich nicht für etwas Besseres als seine Mitmenschen halten.

8. Sein Streben darf allein Gott und Seinem Wohlgefallen gelten.

9. Er muss dem Propheten Muhammad ohne Wenn und Aber folgen.

10. Er muss sich selbst erneuern und sein spirituelles Leben fortwährend kontrollieren, indem er die Handlungen und Werke Gottes und Seine Gesetze für Natur und Leben studiert und über sie reflektiert.

11. Er darf den Tod niemals vergessen und muss in dem Bewusstsein leben, dass er ihn jederzeit ereilen kann.

Um es noch einmal zusammenzufassen: Taqwa ist das Lebens-wasser, das dem Himmel entspringt, und ein muttaqi (ein Frommer) ist der Glückliche, der dieses Wasser des Lebens gefunden hat. Nur wenigen wurde diese Gnade zuteil. Ein Dichter sagt:

„Gott, der Allmächtige, sagt: Die Größten unter euch sind die Frommen.
Der letzte Wohnort der Frommen wird das Paradies und ihr Getränk wird der kawthar[12] sein."

O Gott, mache auch uns zu Deinen treuen Dienern, die in allen religiösen Handlungen aufrichtig sind.


[1] 49:13
[2] 2:2
[3] 2:21
[4] 3:102
[5] 42:37
[6] 10:9
[7] Tirmidhi, Qiyama, 19; Ibn Madscha, Zuhd, 24
[8] Bukhari, Iman, 39; Muslim, Musaqat, 107/108
[9] 49:13
[10] 35:28
[11] 49:3
[12] Getränk Gottes im Paradies"

 

 

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