Fethullah Gülen: Ein Quell der Inspiration zu multi-disziplinären Studien
Bereits im 18. Jahrhundert hat Goethe erkannt, dass Ost und West untrennbar miteinander verbunden sind. Doch obwohl seit dem Fall der Berliner Mauer mittlerweile viel Zeit vergangen ist, ist es den modernen Gesellschaften bis heute nicht gelungen, Goethes Traum vom Miteinander zu verwirklichen. Noch immer verstricken sie sich in Vorurteile und Stereotypen, die das Weltbild einer in Osten und Westen unterteilten Welt zementieren. Die Erweiterung der Europäischen Union hat dies wieder einmal in aller Deutlichkeit gezeigt. Doch glücklicherweise gibt es auch Stimmen, die Mut machen; Stimmen, denen vielleicht noch zu wenig Beachtung geschenkt wird, die aber dennoch bereits seit Jahren eine ganz andere Weltsicht vertreten und sich sehr erfolgreich in den Dienst der Menschen und des öffentlichen Wohls stellen." - So lauteten die Begrüßungsworte zu einer Konferenz der Universität Potsdam, die sich eingehend mit dem namhaften türkischen Gelehrten Fethullah Gülen und der nach ihm benannten Bewegung befasst hat. Diese Konferenz mit dem Titel ,Muslime zwischen Tradition und Moderne. Die Gülen-Bewegung als Brücke zwischen den Kulturen' wurde organisiert vom Institut für Religionswissenschaft der Universität Potsdam und dem Forum für Interkulturellen Dialog (FID), Berlin, in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Orient-Institut, dem Abraham Geiger Kolleg und der Evangelischen Akademie zu Berlin.
Mit 32 vortragenden Wissenschaftlern und rund 500 Besuchern aus aller Welt war diese Konferenz die erste ihrer Art, in deren Organisationskomitee keine türkischen oder muslimischen Gelehrten saßen, sondern Wissenschaftler wie Prof. Karl-Josef Kuschel von der Eberhard Karls Universität Tübingen, Prof. Christina von Braun von der Berliner Humboldt Universität und Prof. Markus Witte von der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt. Allein aufgrund dieser Tatsache darf die Konferenz wohl zu Recht als ein Podium bezeichnet werden, auf dem sich Außenstehende intensiv mit der Gülen-Bewegung beschäftigt und über sie diskutiert haben.
Anmerkungen und Kommentare von Außenstehenden sind immer förderlich für eine soziale Bewegung, egal ob sie beifälliger oder kritischer Natur sind. Denn das Auge eines Außenstehenden ist der Spiegel, in dem eine soziale Einheit - Individuum oder kollektive Persönlichkeit - ihre eigene Identität begutachten und neu definieren kann. Es gab sowohl beifällige als auch kritische Vorträge auf dieser Konferenz in Potsdam. Und die Teilnehmer der Gülen-Bewegung werden ,Lob und Tadel' gleichsam aufgesogen haben und nun versuchen, Ersteres noch zu stärken und Letzteres zu korrigieren.
Bemerkenswerterweise gab es einen Schnittpunkt zwischen den lobenden und den skeptischen Vorträgen: Beide Seiten verband die gemeinsame Überzeugung, dass die Gülen-Bewegung der westlichen Welt eine Reihe von Möglichkeiten offeriert, die unbedingt genutzt werden sollten. Außerdem bekräftigten beide Seiten, dass die grundlegenden Prinzipien der Gülen-Bewegung der westlichen Welt bei der Lösung ihrer Probleme helfen könnten - und dies gelte nicht nur für diejenigen Probleme, die sich im Zusammenhang mit den Muslimen stellen, sondern auch für all jene, die durch die westliche Kultur bedingt sind. Dieser Punkt erfordert sicherlich eine weitere Vertiefung und bietet möglicherweise sogar neue ,Betätigungsfelder' für die Gülen-Bewegung und andere ähnliche muslimische soziale Organe.
Professor Dr. Leonid R. Sykiainen, Professor für Islamisches Recht und Vergleichende Rechtswissenschaft an der Staatlichen Universität, Hochschule der Ökonomie, in Moskau schlug zum Beispiel vor, Gülens Dialogansatz in Vergleichsstudien islamischer und westlicher Rechtssysteme zu integrieren. Sykiainen riet dazu, man solle sich auf den anspruchsvolleren Ebenen des Dialogs die universelle Sprache des Rechts zu Nutze machen. "Eine vergleichende Studie über das Islamische Recht, das für sich allein genommen ein großartiges Kunstwerk darstellt, sollte zum Thema einer künftigen Gülen Konferenz gemacht werden", führte er weiter aus. Diese Anregung war nicht zuletzt deshalb wichtig, weil sie über den festgelegten Gegenstand der Konferenz - "den Austausch über Fethullah Gülen und die Gülen-Bewegung" - hinausging und nahelegte, "mittels der Denkmuster Gülens über ein Thema der Rechtswissenschaft zu konferieren".
Ein ähnliches Ansinnen brachte Prof. Dr. Rev. Simon Robinson vor, Professor für Angewandte Ethik und Berufsethik an der Leeds Metropolitan University, Großbritannien. Er betonte, dass das Werk Gülens eine gute Grundlage für die Erweiterung von Theorie und Praxis der gemeinschaftlichen Verantwortung ("corporate responsibility") liefere. Robinson führte das stark ausgeprägte Verantwortungsbewusstsein der Gülen-Bewegung auf ihre strapazierfähige Schöpfungstheologie zurück, aus der sich ein differenziertes Bild der Verantwortlichkeit in Bezug auf Rechenschaftspflichten, Zurechnungsfähigkeit und moralische Verpflichtung ableiten lasse. Seinen Beobachtungen zufolge verstärkt und bestätigt dieser Verantwortungskern die Existenz pluraler Verantwortlichkeiten, einschließlich etwa einer zivilgesellschaftlichen und einer globalen Verantwortung. "Somit wird eine konzeptionelle Brücke zwischen Religion, gemeinschaftlicher Verantwortung, Zivilgesellschaft und Nachhaltigkeit geschlagen", erklärte Robinson. Er forderte die Gülen-Bewegung dazu auf, sich noch nachdrücklicher im gegenwärtigen Dialog über globale Verantwortung zu engagieren und, wo immer dies möglich ist, den Dialog und die Praxis der Verantwortung in der Wirtschaftswelt über ihre derzeit aktiven Netzwerke hinaus auch auf andere Glaubensnetzwerke und säkulare Körperschaften auszudehnen.
Dr. Sylvia Powels-Niami, Dozentin am Institut für Religionswissenschaft und Jüdische Studien der Universität Potsdam, beschrieb in ihrem Vortrag, dass die Gülen-Bewegung mit ihrem Schwerpunkt auf dem interkulturellen und interreligiösen Dialog die wichtige Aufgabe übernommen hat, jene alte dialektische islamische Tradition fortzuführen, die durch eine Harmoniesierung von Vernunft und Religion den Kalam als spekulative Theologie hervorgebracht hat. Powels-Niami gelangte zu dem Schluss, dass die Aktivitäten der Gülen-Bewegung nicht nur zwischen der östlichen und der westlichen Welt oder zwischen Glaube und Wissenschaft vermitteln, sondern auch das Potential in sich bergen, die vernachlässigten religiösen Wissenschaften des Islams wiederzubeleben und sogar neue Wissenschaften zu entwickeln.
Prof. Dr. Admiel Kosman, ein Mitorganisator der Konferenz vom Abraham Geiger Kolleg, rief dazu auf, wissenschaftliche Kontakte zwischen Muslimen, Christen und Juden zu fördern und auf diesem Wege neue multi-disziplinäre Studien ins Leben zu rufen. Er sprach sich dafür aus, die Ergebnisse der Konferenz einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, und regte an, in Berlin oder in Istanbul ein "gemeinschaftlich betriebenes Studienhaus" zu gründen, in dem muslimische, christliche und jüdische Texte und Traditionen erforscht werden könnten und eine neue Generation von Imamen, Priestern und Rabbinern nach dem Vorbild eben jener Offenheit und Toleranz ausgebildet werden würde, für die sich Gülen so einsetzt.
Kosman war es auch, der das Grußwort verlas, das Fethullah Gülen der Konferenz gesandt hatte. In diesem Schreiben verlieh Gülen seiner Überzeugung Ausdruck, dass der Dialog einen universellen Frieden schaffen wird und dass sich das positive Wesen des Menschen früher oder später durchsetzen muss: "Unsere Aufgabe besteht darin, aufzubrechen zu einer Reise, die diesen Tag der Hoffnung Wirklichkeit werden lässt. Auf dieser Reise ist jeder einzelne Schritt wichtig, respektabel und lobenswert. Und auf diesem Weg muss jeder Schritt auf gegenseitigem Respekt und Verständnis basieren, was nicht nur für die Staaten und Nationen gilt, sondern auch für Individuen. Die Pflicht, diesen Dialog zu führen, lastet nicht allein auf den Schultern von Regierungen oder Staatsorganen. Aus eigenem Antrieb von der Zivilgesellschaft und Einzelpersonen erbrachte Leistungen sind für das Brennen der Fackel von Frieden und Respekt mindestens ebenso wichtig wie Beiträge von offizieller Seite. Die Menschheit braucht Menschen, die diese Fackel tragen."
Ein Vortrag, der besonders viel Beifall aus dem Publikum fand, war der von Dr. Rainer Hermann, einem Wissenschaftler und Journalisten der ,Frankfurter Allgemeinen Zeitung'. Dr. Hermann beobachtet die Gülen-Bewegung seit über 10 Jahren. Er war der erste westliche Intellektuelle, der erkannte, dass die Gülen-Bewegung nicht eine Alternative zum säkularen demokratischen System anbot, sondern eine Alternative zur Politisierung des Islams. In Potsdam wies Hermann der Gülen-Bewegung auf überaus kluge Art und Weise einen Platz auf der sozialen Landkarte der modernen Türkei zu: "Die Republik Türkei ist kein säkularer Staat, der Religion und Politik trennt, sondern ein laizistischer Staat, dessen Eliten die Religion lange aus der Gesellschaft verbannen wollten. Denn bis heute glaubt die kemalistische Staatselite, dass jegliche Religion, wenn sie einmal die Privatsphäre verlässt, politisch werden müsse und dem Staat und der Gesellschaft eine theokratische Ordnung aufzwinge. Fethullah Gülen gebührt das Verdienst, Vorurteile dieser Art widerlegt zu haben. Gülen hat den Islam zu einer gesellschaftlichen Kraft gemacht, die einen großen Anteil an der Demokratisierung und Modernisierung der Türkei besitzt. Der Mensch steht im Mittelpunkt seines Denkens und seiner Predigten, nicht die Politik. [...] Das ist neu für die Türkei, wo im offiziellen Diskurs nie das Individuum im Mittelpunkt gestanden hat, sondern stets der Aufruf, zur Wahrung der nationalen Sicherheit die inneren und die äußeren Feinde des Vaterlands zu bekämpfen", verriet Hermann seinen Zuhörern. "Gerade aufgrund Gülens Wirkens ist in der Türkei ein Islam lebendig, der im Einklang mit der Modernität und dem Westen steht und dabei nichts von seinen Glaubensinhalten preisgeben muss. Das Wirken seiner Anhänger in der Türkei zeigt, dass der Islam, wie ihn Gülen predigt, nicht den Konflikt sucht, sondern Toleranz, dass er nicht nach hoher politischer Macht strebt, sondern nach einer besseren Gesellschaft, und die soll durch Gebet und konkretes lokales Handeln entstehen."
Dr. Rainer Hermann konzentrierte sich in seinem Vortrag ausschließlich auf die Aktivitäten der Bewegung in der Türkei. Er präsentierte dem Auditorium sieben zentrale Thesen: (1) Die Gülen-Bewegung ist eine soziale und apolitische Bewegung; (2) Gülen ist ein moderner Muslim, der sich einsetzt für eine Synthese von Islam und Wissenschaft beziehungsweise türkischer Kultur (gekennzeichnet durch Dialog und Toleranz) und westlicher Zivilisation; (3) Gülen begreift die Wissenschaft als ein Instrument zum Verständnis der Schöpfung und zur Schaffung von Wohlstand; (4) Gülen lässt keinen Zweifel daran, dass Islam und Demokratie miteinander vereinbar sind; (5) Gülens Interpretation des Islams ist ,europagerecht'; (6) Gülen verdankt seinen Erfolg verschiedenen Gründen, unter anderem dem hohen sozialen Rang, den Prediger in der Türkei bekleiden; (7) Fethullah Gülen leistet einen entscheidenden Beitrag zur Modernisierung der Türkei.
Hermann war nicht der Einzige, der seine Hochachtung vor dem Wirken der Gülen-Bewegung zum Ausdruck brachte. Dr. Bekim Agai von der Universität Halle in Deutschland hob hervor, es sei den Aktivitäten der Gülen-Bewegung zu verdanken, dass türkische Migranten in Europa nicht länger Teil der Probleme in Europa sind, sondern Problemlöser - nicht allein im Hinblick auf migrantenspezifische Probleme. Ercan Karakoyun, Doktorand an der Johann Wolfgang Goethe-Universität und selbst Mitglied der Gülen-Bewegung, stellte den Zuhörern einige Aktivitäten der Bewegung in Deutschland vor und beleuchtete den Beitrag dieser Aktivitäten zur Integration türkischer Migranten in die deutsche Mehrheitsgesellschaft.
Einen umstrittenen Vortrag hielt der schwedische Wissenschaftler Dr. Klas Grinell. Obwohl auch er der Gülen-Bewegung zugestand, dass sie keine Parteipolitik betreibe und nicht nach politischer Macht strebe, machte Grinell geltend, dass die Bewegung durchaus eine politische Haltung vertrete: "Diese Bewegung unterstützt Demokratie, Menschenrechte und die EU-Mitgliedschaft für die Türkei. Das ist eine konkrete politische Aussage", so Grinell, der außerdem darlegte, dass ein Quellenstudium Gülen als einen konservativen Führer ausweise. Auf der anderen Seite bezeichnete Grinell Gülen als ein perfektes Muster für eine dekoloniale politische Theorie. "Was die Produktion von Wissen anbelangt, so strebt Gülen nach einer Würde, die von innen heraus kommt, und nicht von außen", verdeutlichte er. Dies sei in der Tat ein revolutionärer Ansatz in der Wissenschaftslehre. Grinell lieferte keine Erklärung dafür, warum er Gülen einerseits als Konservativen und andererseits als Revolutionär bezeichnete, doch betonte er, dass es wenig Sinn mache, nach Bezügen zwischen der Gülen-Bewegung und den Jesuiten, dem Opus Dei oder der Fokolar-Bewegung zu suchen. Da die Dekolonialisierung Bestandteil von Gülens revolutionärer Wissenschaftslehre sei, sollten vielmehr ihre eigenen Dynamiken im Zentrum der Forschung stehen. Diese sollten in einer künftigen Konferenz auf die Tagesordnung gebracht werden.
Die Konferenz endete mit einem übereinstimmenden Bekenntnis zu der Aussage, dass es weiterer Studien zur Gülen-Bewegung und zu den von ihr propagierten Lösungen für die Probleme der Welt von heute bedarf. Obwohl zahlreiche Fragen erst gar nicht angeschnitten werden konnten, war die Konferenz ein voller Erfolg. Zum einen konnten so manche Vorbehalte der Teilnehmer ausgeräumt werden, und zum anderen wurde durch die Berichterstattung in den Medien auch das Interesse der breiten Öffentlichkeit für dieses Thema geweckt.
Die Fontäne, Juli - September 2009, Jahrgang 12, Nr. 45
- Erstellt am .