Gründliches Nachdenken

Ein Ausspruch des Propheten Muhammad lautet: Eine Stunde gründlichen Nachdenkens ist besser als ein Jahr zusätzlicher (über das Pflichtmaß hinausgehender) Anbetung. Was ist hier gemeint, wie denkt man gründlich nach?

Zunächst einmal möchte ich betonen, dass es sich hier um einen schwachen Hadith handelt. Nichtsdestotrotz findet sich auch im Koran ein Vers, der den gleichen Gedanken zum Ausdruck bringt:

Wahrlich, in der Erschaffung der Himmel und der Erde und in der Abwechslung von Tag und Nacht (mit ihren sich verkürzenden und verlängernden Zeitabläufen) sind Zeichen (in denen sich die Wahrheit manifestiert) für die Einsichtigen. (3:190)

Und auch in einem anderen Hadith unterstreicht der Gesandte Gottes die Bedeutung des gründlichen Nachdenkens:

Schande über den, der diesen Vers liest und nicht gründlich über ihn nachdenkt. Außerdem berichteten Umm Salama und - in einem weiteren Hadith - Aischa, dass der Prophet weinte, als dieser Vers offenbart wurde oder als er ihn rezitierte.

Dem gründlichen Nachdenken gebührt ein sehr wichtiger Platz im Leben jedes gläubigen Menschen. Damit es diesen Platz aber auch einnehmen kann, muss uns klar sein, was genau gründliches Nachdenken eigentlich bedeutet. Gründliches Nachdenken basiert immer auf bereits vorhandenem Wissen. Blindes und unwissendes Nachdenken ist nicht mehr als ein fades Trugbild, das früher oder später Frustrationen erzeugt und das der Nachdenkende selbst schon bald als nutzlos empfinden wird. Aus diesem Grunde sollte man mit einem Thema, worüber man gründlich nachdenken möchte, schon vertraut sein; oder, mit anderen Worten: Man sollte zumindest einige grundlegende Informationen darüber besitzen.

Zu verstehen, welcher Bahn der Mond und die Sterne folgen und in welcher Beziehung sie zum Menschen stehen oder welche Bewegungen die Atome vollführen, aus denen wir Menschen bestehen, ist ein Schritt in die Richtung des gründlichen Nachdenkens. Sich die Wanderungen von Mond und Sonne anzuschauen und angesichts der verblüffenden Schönheit des Universums von poetischer Inspiration überwältigt zu sein, ist dagegen kein gründliches Nachdenken. Doch gibt es eine ganze Reihe von einsamen, beschränkten naturalistischen Dichtern, die genau das annehmen und in ihrer Vorstellungskraft untertauchen. Sie sind keine Denker, sondern versponnene Menschen, die ihre Herzen an Mephisto verloren haben.

Auch sie können durchaus über die Schönheit des Universums nachsinnen und sprechen. Worte vermögen weltliche Schönheit unsterblich zu machen, und sie besitzen das Potenzial, ihr Publikum die Schönheiten des Himmels spüren und hören zu lassen. Manche Dichter haben die Gabe, wahre Epen über das Plätschern von Wasser, das Prasseln von Regentropfen, das Rascheln von Bäumen und das Zirpen von Vögeln zu erzählen, sodass man den Eindruck gewinnt, man befände sich inmitten der Himmel. Allerdings hat dies nichts mit gründlichem Nachdenken zu tun. Es hat dem Leben von Herz und Geist nichts anzubieten. Es trägt nicht dazu bei, dass wir uns weiterentwickeln, und es erlaubt uns auch nicht, einen Blick hinter die Schleier zu werfen. Von dieser Art Nachsinnen profitieren wir nicht. Wie tiefschürfend diese Träumereien auch sein mögen, sie kommen uns nicht zugute.

Wie ja bereits erwähnt wurde, muss am Anfang des gründlichen Nachdenkens ein Mindestmaß an Wissen stehen. Aus dem Wissensschatz, den sich die Menschheit bis heute angeeignet hat, werden die Menschen neue Analysen und Synthesen hervorbringen. Sie werden die Erkenntnisse der Vergangenheit noch eingehender prüfen und ihre Schlüsse daraus ziehen. Aus diesen Schlüssen werden sie dann weitere Schlüsse ziehen und neue Entdeckungen machen. Über die neuen Entdeckungen wird man gründlich nachdenken. Und als Folge dessen wird sich eindimensionales Denken in mehrdimensionales und vielschichtiges Denken verwandeln. Entscheidend dafür ist jedoch, dass Informationen zur Verfügung stehen. Ohne entsprechende Informationen ist jedes gründliche Nachdenken zum Scheitern verurteilt.

Aus diesem Grunde ist es zunächst einmal notwendig, viel zu lesen. Dann ist es notwendig, die Methode des gründlichen Nachdenkens zu studieren und schließlich auch die Gesetze, die in der Natur wirken. Auch die Zeichen in der Natur sollten studiert werden, denn erst ein solches Studium gibt uns die Chance, konsequent und umfassend zu denken.

Wer eine Stunde lang gründlich nachdenkt, dem werden sich die Grundprinzipien des Glaubens erschließen. Er wird Gott lieben lernen, und in seinem Herzen wird sich eine tiefe Zuneigung zu allem, was von Ihm kommt, ausbreiten. Auf dem Weg dorthin wird er spirituelle Freuden kosten und der Welt des Jenseits gewissermaßen entgegen schweben. Mit Hilfe dieser Form des gründlichen Nachdenkens gelingt es manchen, sich zu einem Horizont aufzuschwingen, den andere selbst in 1.000 Jahren Anbetung nicht erreichen könnten. Wer aber über Intellekt und Bewusstsein verfügt, und sich dennoch nicht zu seinem Herrn hinwendet, wird in 1.000 Jahren oberflächlicher Überlegung weniger Wegstrecke zurücklegen, als in einer Stunde gründlichen Nachdenkens möglich wäre.

Dies soll allerdings auf keinen Fall so missverstanden werden, als könnten 1.000 Jahre Anbetung vergebens sein. Denn vor Gott geht weder eine einzige Verbeugung noch eine Niederwerfung, ein Stehen oder eine kurze Pause zwischen den Bewegungen (beim Beten) verloren. Ganz im Einklang mit den Versen Und so wird derjenige, der Gutes im Gewicht eines Stäubchens tut, es sehen; und derjenige, der Böses im Gewicht eines Stäubchens getan hat, wird es sehen (99:7-9) wird jedem das vergolten, was er getan hat. Wer Gott anbetet, hat damit seine Pflicht der Hingabe an Gott erfüllt. Nur bleibt ihm eben die gedankliche Tiefe verwehrt, die sich aus gründlichem Nachdenken speist. Und in diesem Sinne ist das gründliche Nachdenken so wertvoll wie 1.000 Jahre Anbetung.

Jeder Mensch ist dazu in der Lage, seine Fähigkeit zum gründlichen Nachdenken zu erweitern, indem er sich mit Versen und Suren aus der Heiligen Schrift befasst und sich Gott vergegenwärtigt. Jeder ist dazu in der Lage, seine Beziehung zu Gott zu stärken. Wer weiß, vielleicht bereitet uns dieses gründliche Nachdenken ja so viel Freude, dass wir zu neuen Menschen werden. Möge Gott uns im Innern wie auch in der äußeren Erscheinung wandeln!

Oft werde ich auch gefragt: „Zählen Koranverse, die uns zu gründlichem Nachdenken und stillem Gebet anregen, ebenfalls als gründliches Nachdenken?“ Wenn man die Bedeutung der Verse nicht vollständig erfasst, wird uns die Rezitation dieser Verse zwar als Verdienst angerechnet, doch kann dann nicht von gründlichem Nachdenken die Rede sein. Denn gründlich nachzudenken heißt zu reflektieren, und es bedeutet, Geschehnisse aus der Vergangenheit mit solchen aus der Gegenwart zu verknüpfen, eine Synthese daraus zu bilden und eine Verbindung zwischen Ursachen und Wirkungen herzustellen. Die bedeutendste Frucht dieses Prozesses ist die Stärkung unseres Verhältnisses zu Gott. Jedes Gottesgedenken und jede Rezitation eines Verses ist ein Verdienst, und wenn wir die Rezitation der Heiligen Schrift aus dem Mund des Erzengels Gabriel persönlich vernehmen würden, so wäre auch das ein Verdienst. Doch selbst dies könnte nicht als gründliches Nachdenken gelten. Denn gründliches Nachdenken erfordert Konzentration, Fokussierung, ernsthaftes Forschen und eine Vertiefung und Stärkung unserer Beziehung zu Gott.

Gründliches Nachdenken gehört zu den Dingen, an denen es in der heutigen Zeit am meisten mangelt. Dass diese Eigenschaft auch bei den meisten Gläubigen zu schwach ausgeprägt ist, dürfte daher wohl keine Übertreibung sein.

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