Mitgefühl

Im Mitgefühl liegt der Ursprung allen Seins; ohne Mitgefühl würde alles im Chaos versinken. Mitgefühl hat alles entstehen lassen, und Mitgefühl lässt alles harmonisch weiter existieren. Botschaften, die von der anderen Seite des Himmels kamen, haben dafür gesorgt, dass die Erde ihre Ordnung fand. Alles in den Welten von Makro- und Mikrokosmos Existierende, hat - dem Mitgefühl sei Dank - eine unvergleichliche Ausgewogenheit erlangt. Alle Aspekte des diesseitigen Lebens sind Prüfungen für das Leben des Jenseits; und das Handeln jedes einzelnen Geschöpfes ist diesem Zweck unterworfen. In jedem Streben manifestiert sich eine Ordnung, und in jeder erbrachten Leistung äußert sich Mitgefühl. Dieses außerordentliche Intensität des Mitgefühls kann einfach nicht unbemerkt bleiben.

Auf den Schwingen des Mitgefühls ziehen Wolken über unseren Köpfe, aus denen Regen fällt, der uns gute Dienste leistet. Unter lärmendem Getöse bringen uns Blitz und Donner aus dem Reich des Mitgefühls die frohe Kunde nahenden Regens. Das ganze Universum samt all seinen Teilchen singt unablässig den Lobpreis des Barmherzigen. Und alle Geschöpfe rühmen das Mitgefühl mit den ihnen eigenen Stimmen.

Man betrachte nur einmal den Wurm. Von Füßen getreten ist er eigentlich auf sehr viel Mitgefühl angewiesen, und doch bekundet er auch seinerseits Mitgefühl. Liebevolles Erdreich umhüllt ihn; im Gegenzug legt er in jeder Hand voll Erde Tausende von Eiern ab. Dadurch reichert er das Erdreich mit Kohlensäure an; es gewinnt an Volumen und entwickelt Bedingungen, die günstig für die Aussaat von Saatgut sind. Einerseits spendet das Erdreich den Würmern also Mitgefühl, andererseits sind die Würmer auch ein Segen für das Erdreich. Fast fehlen uns die Worte, jene achtlosen Menschen zu beschreiben, die Gräser und Wurzeln verbrennen, um Dünger zu erhalten. Diese armseligen Menschen! Sie bringen für Erde und Würmer kein Mitgefühl auf. Schauen wir uns doch nur die Biene an, wie sie sich den Blumen nähert, oder die Seidenraupe, wie sie sich in ihrem Kokon vergräbt! Welche Anstrengungen nehmen sie nur auf sich, um an der Sinfonie des Mitgefühls mitwirken zu können! Können wir denn wirklich über die schmerzlichen Mühen hinwegsehen, die diese Kreaturen bewältigen, um dem Menschen Honig und Seide zu liefern?

Aber dies ist noch längst nicht alles! Haben wir schon einmal darüber nachgedacht, wie heldenhaft sich ein Huhn verhält, das, um seine Küken zu retten, einem Hund anbietet, den eigenen Kopf abzubeißen, oder welch großes Lob sich ein Wolf verdient, der seinen eigenen Hunger vergisst und alle Nahrung, die er findet, seinen Jungen vorsetzt?

Die gesamte Existenz kündet von Mitgefühl und verspricht Mitgefühl; deshalb darf das Universum durchaus als eine Sinfonie des Mitgefühls bezeichnet werden. Alle Arten von Stimmen verkünden ihr Mitgefühl. Eigentlich sind sie gar nicht zu überhören, und ebenso wenig ist es eigentlich möglich, dass jemand die umfassende Barmherzigkeit, die alles umgibt, nicht spürt. Wie bedauernswert doch jene sind, die dies nicht wahrnehmen!

In seinem Anspruch, Mensch zu sein, ist jeder Mensch dazu verpflichtet, allen Lebewesen Mitgefühl zu zollen. Je mehr Mitgefühl er bekundet, desto mehr Lob gebührt ihm. Je mehr er sich jedoch in Sünden, Unterdrückung und Grausamkeiten verstrickt, desto mehr wird er in Ungnade fallen und erniedrigt werden. Er wird der Menschheit Schande bereiten.

Der Prophet der Wahrheit hat uns berichtet, dass eine Prostituierte ins Paradies eingegangen ist, weil sie einem armen Hund, der kurz vor dem Verdursten stand, aus Mitgefühl Wasser gab, während eine andere Frau zu Höllenqualen verdammt wurde, weil sie eine Katze verhungern ließ.

Mitgefühl ruft neues Mitgefühl hervor. Wenn ein Mensch auf Erden mitfühlend ist, erreichen ihn viele frohe Botschaften vom Himmel. Nachdem unsere Vorfahren dieses Geheimnis ergründet hatten, bauten sie allerorten Stätten des Mitgefühls auf, u.a. auch Stiftungen für den Schutz und die Fütterung von Tieren. Ein sehr mitfühlender Mensch z.B. war von einem Vogel mit gebrochenen Beinen und einem Storch mit einer Flügelverletzung so tief erschüttert, dass er ein Heim für verletzte Vögel gründete; ähnliches Handeln war besonders unter den osmanischen Türken weit verbreitet.

Eigentlich sollten wir unseren Mitmenschen gegenüber ebenso mitfühlend sein, wie es unsere Vorfahren den Tieren gegenüber waren. Doch nicht nur, dass es uns nicht gelungen ist, uns selbst gegenüber Mitgefühl zu entwickeln - nein, wir haben sogar bereits der nächsten Generation schwer geschadet, indem wir die Erde voller Gleichgültigkeit und ohne jedes Einfühlungsvermögen behandelt haben. Wir sind es gewesen, die die Zerstörung einer Umwelt in Gang gesetzt haben, in der zu leben immer schwieriger fällt.

Ein anderer Aspekt: Trotz allem muss betont werden, dass ein Missbrauch des Mitgefühls genauso schädlich oder sogar noch schädlicher sein kann, als das völlige Fehlen von Mitgefühl.

Wenn man Sauerstoff und Wasserstoff im richtigen Verhältnis mischt, erhält man eine der vitalsten Substanzen überhaupt. Wenn sich dieses Mischverhältnis jedoch ändert, erhält jedes der beiden Elemente seine ursprüngliche leicht entzündliche Identität zurück. Analog dazu ist es von größter Wichtigkeit, die Intensität des eigenen Mitgefühls genau zu bemessen und auch zu wissen, wer Mitgefühl verdient. Mitgefühl für einen Wolf lässt diesen noch hungriger werden. Unzufrieden mit dem, was man ihm zukommen lässt, wird er ständig nach mehr verlangen. Mitgefühl für Rebellen zu empfinden, hieße, diese nur aggressiver zu machen und sie zu ermutigen, anderen Unrecht zuzufügen. Auch für Menschen, die Gefallen daran finden, wie eine Schlange Gift zu verspritzen, sollte kein Mitgefühl aufgebracht werden. Denn Mitgefühl für solche Menschen zu hegen, würde bedeuten, die Verwaltung der Welt den Kobras zu überlassen.

Wer mit einem grausamen Menschen, an dessen Fingern Blut klebt, mitfühlt, begeht den unterdrückten und ungerecht behandelten Menschen gegenüber eine schwere Sünde. Wer eine solche Haltung an den Tag legt, würde aus Mitgefühl mit den Wölfen die Rechte der Lämmer vernachlässigen, sie ohne Mitgefühl den Wölfen überlassen. So sehr er die Wölfe auch erfreuen würde - die Schöpfung würde angesichts solcher Ungerechtigkeit aufstöhnen und wehklagen.

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