Kann sich ein Mensch allein durch seine Absicht retten?
Die Absicht ist die Quelle aller Handlungen. Ob bewusst oder unbewusst - die Absicht gibt dem Menschen das Recht, für jede einzelne Handlung Verantwortung zu beanspruchen. Sie ist auch die feste Grundlage des Willens und der Kraft, bestimmte Ergebnisse zu erzielen. Alles, was den Menschen selbst und die Welt im Allgemeinen betrifft, beruht, was Beginn und Dauerhaftigkeit betrifft, auf Absichten. Ohne Absicht ist es unmöglich, etwas zu Stande zu bringen und dessen Fortbestand zu sichern.
Am Anfang steht immer eine Idee, und dann geht man dazu über, entsprechende Pläne zu schmieden. Später wird die Idee als Ergebnis von Entschlusskraft und Ausdauer vielleicht Realität. Ohne eine initiierende Idee, die sich zu einer Absicht entwickelt, ist es schwierig, ja möglicherweise sogar sinnlos, ein Projekt zu starten. Ohne Ausdauer und eine Absicht, die mit festem Willen und Entschlusskraft aufrechterhalten wird, kann kein Vorhaben mit dem erwünschten Resultat abgeschlossen werden.
In Bezug auf gutes und schlechtes Handeln spielt die Absicht eine maßgebliche Rolle. Die Qualität einer Absicht kann wie ein Allheilmittel wirken, das jede Krankheit besiegen und jeden Nachteil beseitigen kann. Genauso gut aber kann die Absicht eine Katastrophe sein, die sich den Blicken entzieht und in einem einzigen Augenblick all das, was ein Mensch jemals zu Stande gebracht hat, zerstört. Einige Handlungen des Menschen scheinen winzig und unscheinbar zu sein; doch die Energie und die Durchschlagskraft der Absicht, die sich hinter ihnen verbergen, können so stark sein, dass sie Konsequenzen gewaltigen Ausmaßes nach sich ziehen - so wie aus einem einzigen Korn eine unglaublich ergiebige Ernte werden kann. Umgekehrt können Anstrengungen, die so gewaltig wie massive Gebirgszüge erscheinen, aber auch zu unbedeutenden oder sogar zu gar keinen Ergebnissen führen - wenn schlechte Absichten hinter ihnen stecken.
Alle Handlungen, die im Bewusstsein, Gott zu dienen, ausgeführt werden, wie zum Beispiel das Sitzen, Stehen oder Sich-Verbeugen während des Gebets, das Fasten oder auch der zeitweilige Verzicht auf Vergnügungen, die gestattet sind, mehren den Lohn eines Menschen und heben ihn auf einen spirituellen Rang. Andererseits münden die gleichen oder ähnliche Handlungen, die in einem Bewusstsein verrichtet werden, das weit davon entfernt ist, Gott zu dienen, nur in Leid und Bestrafung. Der Mensch handelt oder verzichtet darauf zu handeln. Dadurch findet er das Wohlgefallen Gottes und erwirbt sich die schönste Gestalt (ahsan taqwim). Ohne die entsprechende Absicht aber kann er die gleiche oder eine andere Handlung tausendmal ausführen - und in den Augen Gottes besitzen sie dennoch keinen Wert.
Der Märtyrertod auf dem Schlachtfeld ist eine der höchsten Belohnungen im Islam. Aber jemand kann nicht auf die Belohnung des Märtyrertums hoffen, selbst wenn er im Kampf auf dem Schlachtfeld von Feinden des Islam getötet wurde, wenn er an diesem Kampf teilnahm, um seine eigenen Launen oder Wünsche zu befriedigen. Andererseits kann ein Muslim ohne Zweifel auf die Belohnung des Märtyrertums und das Paradies von Gott hoffen, wenn er immer wieder aufrichtig um den Märtyrertod auf dem Wege Gottes bittet, aber in der Bequemlichkeit des eigenen Bettes stirbt und nicht auf Grund seiner Absicht, den Islam zu verteidigen und den Muslimen eine bessere Zukunft hinsichtlich ihres islamischen Lebens zu verschaffen.
Die Absicht ist ein Schlüssel, der uns in dieser vergänglichen Welt, die keinen Bestand hat, die Tür zum Unendlichen öffnet. Richtig gehandhabt öffnet dieser Schlüssel die Tür zum ewigen Glück. Denn wenn die täglichen, wöchentlichen und monatlichen Pflichten korrekt und aufrichtig erfüllt werden, dann werden die Erträge und Belohnungen, die sie mit sich bringen, nicht nach dem Maß der Zeit bemessen, die für diese Pflichten aufgebracht wurde, sondern nach der Intensität, mit der sie auf das ganze Leben einwirken. Wird dieser Schlüssel jedoch auf falsche Art und Weise zum Einsatz gebracht, beschwört er ewiges Leid und Elend herauf.
Jeder Muslim, der zum Dschihad bereit ist, ist berechtigt, auch dann, wenn er nicht tatsächlich an einem Kampf beteiligt ist, auf denselben Lohn zu hoffen wie ihn diejenigen erhalten, die direkt an ihm teilnahmen. Für einen Wachposten, der zur Pflichtausübung in der Kaserne wartet, kommt Belohnung ebenso in Frage wie für jemanden, der tatsächlich Wache steht. Der Lohn für das Wachestehen auf dem Wege Gottes ist ein genauso hoher Lohn wie der Lohn für jemanden, der sich monatelang Gebeten hingibt.
Es kann also durchaus passieren, dass ein gläubiger Mensch auch dann ins Paradies kommt, wenn er sich nur sehr kurz in dieser Welt aufgehalten hat, während ein ungläubiger Mensch, der lange gelebt hat, ewige Strafe und ewiges Elend erdulden wird. Denn ansonsten müsste ja, der äußeren Gerechtigkeit gemäß, jeder Mensch in demselben Maße für sein Gutes und für seine Tugendhaftigkeit belohnt wie für seine Fehler und Sünden bestraft werden. Dies wiederum würde aber bedeuten, dass der Mensch so lange im Paradies bliebe, wie er im Diesseits rechtschaffen gelebt hat, bzw. so lange in der Hölle bliebe wie er im Diesseits gesündigt hat. Die Ewigkeit ist jedoch das unwiderrufliche Ende für das Gute wie auch für das Böse, und zu ihr gibt es keine Alternative. Ewiges Glück und ewige Bestrafung sind somit in der Qualität und Substanz der Absicht eines Menschen begründet. Die Absicht, stets ein aufrichtiges und rechtschaffenes Leben zu führen, wird zum ewigen Glück führen. Andererseits aber wird die Absicht, ein Leben zu führen, das von Ablehnung, Zurückweisung und Disziplinlosigkeit geprägt ist, ewiges Unglück nach sich ziehen.
Wenn jemandem, dessen Herz zeit seines Lebens vom Bewusstsein, Gott zu dienen, erfüllt war, kurz vor seinem Tod die Chance gegeben würde, weitere tausend Jahre zu leben, würde er sicherlich auch weiterhin ein Leben des Gehorsams und der Unterwerfung unter den Willen Gottes führen. Da er entschlossen wäre, dies zu tun, würde seine Absicht anerkannt und entsprechend belohnt werden. Die Absicht eines Gläubigen ist wohlwollender als sein Handeln.[1] Ein Ungläubiger, der Gott bewusst leugnet und ablehnt, würde ebenfalls mit Sicherheit so weiterleben wie zuvor, wenn ihm die Chance gegeben würde, sein Leben fortzusetzen. Seiner Absicht entsprechend wird der ungläubige Mensch deshalb auch für alle Ewigkeit bestraft. Ob sich ein Mensch das Paradies oder die Hölle verdient, hängt also vor allem davon ab, welche Absichten sein ganzes Leben reflektiert, und nicht von einem flüchtigen Augenblick, in dem er die eine oder andere bestimmte Sache unternommen hat. Die Absicht, zu einem wahrhaften Glauben zu gelangen und ihn sich anschließend auch auf rechtschaffene Art und Weise zu bewahren, führt zu ewigem Glück; das Gegenteil führt zu ewiger Verdammnis.
Jeder Ungläubige, der willentlich seinen Unglauben oder den eines anderen hegt und pflegt, hat dafür die Folgen zu tragen; und auch der Satan, der Menschen in die Irre führt und alle Arten von Übel und Verderbtheit hervorruft, wird in vollem Umfang für die Folgen des unauslöschlichen Unglaubens, zu dem er ermuntert und den er nährt, bezahlen.
Der Einfluss, den der Satan auf Menschen ausübt, ist kaum zu leugnen und sorgt dafür, dass einige von ihnen ihre angeborenen Talente weiterentwickeln, in ihrem Wesen verborgene Werte und Tugenden entdecken und kultivieren und in Geist, Herz und Seele wachsamer und bewusster werden. Der Satan attackiert Individuen und Völker gleichermaßen. Dadurch, dass er giftige Samenkörner in die Herzen der Menschen sät, versucht er, sie in Felder der Sünde und aller Arten von Übel zu verwandeln. Gegen die Versuchungen und die Verderbtheit des Satans schlagen die spirituellen Kräfte des Menschen Alarm. Sie kämpfen gegen sie, genauso wie bestimmte Körperzellen Alarm schlagen und Widerstand leisten, wenn eine Infektion droht. Und so wie der Widerstand gegen die Krankheit die Immunkraft des Körpers stärkt, gewinnt auch der spirituelle Status des Menschen an Gewicht, wenn er bei Gott, dem Allmächtigen, Zuflucht vor den Versuchungen sucht. Aus diesem Blickwinkel betrachtet zieht der Mensch aus den Bemühungen, die der Satan an ihn verschwendet, wohl eher Nutzen, als dass er Gefahr liefe, Nachteile zu erleiden. Jede Prüfung seines Geistes vermehrt dessen Wachsamkeit, Bewusstsein und Kraft, dem Satan zu widerstehen; jede Prüfung macht den Geist des Menschen noch zielstrebiger, überzeugter vom Guten und, wenn Gefahr droht, umsichtiger.
Der Satan, dessen vergebliche Bemühungen also auch positive Folgen haben können, hat jedoch keinerlei Anteil an der Belohnung derer, die sich durch den Kampf gegen ihn hohe Tugenden erwerben. Denn die Absicht des Satans bestand ja niemals darin, etwas Gutes zu bewirken; vielmehr zielte er immer darauf ab, Menschen in die Irre zu führen und sie aus reiner Gehässigkeit und Bosheit zu Grunde zu richten. Für seine schlechten Absichten und Taten ist er deshalb auf ewig verdammt:
Gott sprach:
Was hinderte Dich daran, Dich niederzuwerfen, nachdem Ich es dir befohlen habe?" Er sagte: „Ich bin besser als er. Du hast mich aus Feuer erschaffen, ihn aber erschufst Du aus Lehm." Er sprach: „Hinab mit dir von hier; es ziemt sich nicht für Dich, hier hochmütig zu sein. Hinaus denn; du bist wahrlich einer der Erniedrigten." Er sagte: „Gewähre mir Aufschub bis zu dem Tage, da sie auferweckt werden." Er sprach: „Dir sei Aufschub gewährt." Er sagte: „Darum, dass Du mich hast abirren lassen, will ich ihnen gewiss auf Deinem geraden Weg auflauern." (7:12 -16)
Der Satan wählte nach seinem eifersüchtigen und arroganten Akt des Ungehorsams ganz bewusst den Weg der Rebellion und des Unglaubens. Sein Schwur, die Menschen vom geraden Weg ab in die Irre zu führen, setzte die nie enden wollende Tragödie der Menschheit in Gang.
Um es noch einmal zusammenzufassen: Die Absicht ist für den gläubigen Menschen von allergrößter Wichtigkeit. Sie kann selbst seine alltäglichsten Handlungen aufwerten und sein Leben ertragreich machen. Qualität und Gehalt der Absichten sind es, die die Tür, die zum ewigen glücklichen Leben führen, öffnen. Andererseits können Absichten aber auch ewige Bestrafung und ewiges Leiden heraufbeschwören. Handlungen erhalten ihren Wert durch die Absichten, die sie hervorgebracht haben: Handlungen werden nur nach ihren Absichten beurteilt, und ein Mensch wird nur das haben, was er beabsichtigt hat.[2]
[1] Madschma az-Zawa’id, 1.69; 1.109
[2] Bukhari, Bad ul-Wahy, 1; Muslim, Imara, 155; Abu Dawud, Talaq, 11"
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