Die Angst vor Erdogan reicht bis nach Bayern
München – Für einen Mann, der gejagt wird, wirkt Ali bemerkenswert ruhig. Erst vor Kurzem haben sie wieder die Frau eines Bekannten verhaftet, in der Türkei, weil sie ihren Mann nicht gefunden haben. Auch Alis Frau ist noch in der Türkei, sie darf das Land nicht verlassen, die Familie ist seit 13 Monaten getrennt. Nicht, weil Ali als Unternehmer gegen Gesetze verstoßen hätte. Sondern weil er die Weltsicht eines Mannes teilt, der den Namen Fethullah Gülen trägt.
München, ein Café, draußen. Ali hat eine Sonnenbrille auf, fester Händedruck, sanftes Lächeln. Bis vor einem Jahr hat er zu Hause viele Menschen beschäftigt, sie haben ein Alltagsprodukt hergestellt. Nun muss er sich abends in ein Stockbett legen, in einer bayerischen Flüchtlingsunterkunft. Aber Ali beschwert sich nicht. Er ist froh, nicht im Knast zu sitzen. Seine Konten und Fabriken mögen beschlagnahmt sein. Seine Hoffnung ist geblieben.
Nur manchmal schaut er sich um, dieser Mann da, entführt der ihn gleich? Der türkische Geheimdienst soll auch in Deutschland tausende Spitzel haben. Der Mann geht weiter. Ali betet zu Allah, dass seine Frau und die Kinder bald bei ihm sind. Dieser Gott, zu dem er betet, ist das derselbe Gott, zu dem auch Recep Tayyip Erdogan betet? „Ich denke nicht, dass Erdogan an Gott glaubt“, sagt Ali leise und doch bestimmt.
Um zu verstehen, warum Menschen wie Ali heute weit entfernt von der Heimat in Stockbetten schlafen, muss man sich den Abend des 15. Juli 2016 in Erinnerung rufen. In der Türkei starten Offiziere und Soldaten einen Staatsstreich. Rund 250 Menschen sterben, über 2000 werden verletzt. Präsident Erdogan befiehlt seine Anhänger auf die Straße, auch viele seiner Gegner stellen sich gegen die Putschisten. Noch in der Nacht ist klar: Der Putschversuch ist gescheitert.
Dann geht alles schnell. Die türkische Staatsführung beschuldigt die „Hizmet“ (übersetzt: „Dienst“) genannte Bewegung des Predigers Gülen, den Umsturz geplant zu haben. Über 150 000 Menschen werden aus dem Staatsdienst entlassen. Schulen, Medienhäuser, Kulturzentren werden geschlossen. Inzwischen sitzen gut 50 000 vermeintliche Gülen-Anhänger in Untersuchungshaft. Das ist, zur Einordnung, als würde die Polizei alle Bewohner der Großen Kreisstadt Freising verhaften.
Ali sagt, er habe über Umwege schon einige Monate vor dem Putsch erfahren, dass Listen mit Gülen-Anhängern existieren. Darauf auch sein Name. Ali flieht, irrt durch die Welt, Nordamerika, Balkan, Deutschland. Hier endlich findet er wieder Momente der Ruhe, im Gebet, im Gespräch mit anderen geflohenen Türken. Aber die Angst um die Familie ist immer da. Und mit ihr die Fassungslosigkeit. „Wie Kriminelle werden wir behandelt“, sagt Ali. „Wie Kriminelle.“
Alis Problem: Sowohl in der Türkei als auch in Deutschland gibt es viele Menschen, die diese Zuschreibung für korrekt halten – weil sie Erdogans Sicht der Dinge teilen. Dessen Erzählung: Gülen habe über die Jahrzehnte eine sektenähnliche Bewegung aufgebaut. Deren Mitglieder sollten den Staat unterwandern und schließlich übernehmen. Der Putschversuch sei das gescheiterte Finale dieses Plans gewesen. Der Bundesnachrichtendienst hält das für einen Vorwand, bis heute gibt es keine Beweise.
Erdogan hasst Gülen übrigens nicht seit jeher. Im Gegenteil: Nach dem Wahlsieg seiner Partei AKP 2002 besetzt er Schlüsselpositionen mit Gülen-Leuten. Erdogan hat die Macht, Gülens Kaderschmieden liefern das Personal. Die beiden sollen sich persönlich nur wenige Male begegnet sein. Später kommt es zum Bruch, man wirft sich gegenseitig Korruption und Machtmissbrauch vor. Als viele Türken 2013 im Istanbuler Gezi-Park gegen Erdogan protestieren, stellt sich Gülen nicht eindeutig auf die Seite der Demonstranten. Später kritisiert er die Niederschlagung der friedlichen Proteste. Den lange in der Türkei herrschenden Kemalisten, die für eine strikte Trennung von Staat und Religion standen, sind sowohl Erdogan als auch Gülen nicht geheuer.
München, anderer Ort, anderes Treffen. Auch Ahmet lebt mit dem Vorwurf, Teil einer gefährlichen Bewegung zu sein. Rund zwei Jahrzehnte hat er als Mediziner an einer türkischen Universität gearbeitet. Weil er in Deutschland promoviert hat, spricht er gut Deutsch. Auch Ahmet teilt die traditionsbewusste, genügsame, auf Bildung ausgerichtete Grundhaltung Gülens. Und deshalb lebt er nun wie Ali als Asylbewerber in Bayern – nach einer überstürzten Flucht.
Schlepper sollen ihn damals im September 2016 über die griechische Grenze bringen, nachdem er aus dem öffentlichen Dienst entlassen und sein Bankkonto blockiert wurde. 5000 Euro kostet die Aussicht auf Freiheit. Das Schicksal würfelt Ahmet, bald 50 Jahre alt, mit einer zweifachen Mutter zusammen. Mitten in der Nacht, Griechenland ist nah, schreit der zweijährige Sohn der Frau. Sie hören die auf dem Weg knirschenden Schuhe türkischer Soldaten. Die Frau hat Beruhigungsmittel dabei, der Kleine schweigt schließlich, Ahmet trägt ihn. Irgendwie schaffen sie es über die Grenze, Ahmet schlägt sich nach Deutschland durch.
In der Statistik des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sind Ali und Ahmet zwei von 368 türkischen Staatsangehörigen, die 2016 in Bayern erstmals Asyl beantragt haben. Tendenz steigend – auch bundesweit. Im ganzen Land stellten von Januar bis März 2016 insgesamt 456 türkische Staatsbürger einen Erstantrag. Im gleichen Zeitraum 2017 waren es 1566 Türkinnen und Türken. Ob es sich um Gülen-Anhänger, um (auch angefeindete) Kurden oder um Menschen mit einem anderen Fluchtgrund handelt, erfasst die Statistik nicht.
Wenige Tage nach dem Treffen erhält Ali, der Unternehmer, einen Brief. Darin steht: Die Bundesrepublik gewährt ihm Asyl. Ahmet, der Mediziner, wartet noch auf eine Entscheidung. Aber auch er ist zuversichtlich.
Zunächst verwundert dieser Optimismus, weil die Schutzquote für türkische Staatsangehörige derzeit nur bei 7,5 Prozent liegt. Allerdings werden die meisten Anträge im vergangenen Jahr geflohener Menschen erst nach und nach entschieden. Ihre Anwälte zitieren das Grundgesetz und sagen: Politisch Verfolgte genießen Asyl. Und mehr politische Verfolgung als momentan als Gülen-Anhänger in Erdogans Türkei gehe nicht.
Tatsächlich scheint sich die Stimmung in Deutschland zu drehen. Noch 2012 veröffentlichte der „Spiegel“ einen ausführlichen Artikel, in dem die Gülen-Bewegung bestenfalls schlecht wegkommt. Namenlose Aussteiger berichten von einem „erzkonservativen Geheimbund“. Gülen gehe es um Macht und Einfluss, nicht um Verständnis und Toleranz. Andere Berichterstatter kritisieren das Frauenbild der Bewegung als einzige, rückständige Katastrophe. Das alles kann ganz oder teilweise stimmen, es kann auch Unfug sein. Vielen Menschen erscheint Erdogan heute jedenfalls bedrohlicher als der zuckerkranke und bald 80-jährige Gülen. Der klingt in seinen seltenen, im US-amerikanischen Exil geführten Interviews eher wie eine islamische Ausgabe des indischen Pazifisten Mahatma Gandhi. Frühere Äußerungen, wonach etwa Unglaube schlimmer sei als ein Mord, hat Gülen relativiert. Dokumente unterschreibt er demonstrativ demütig – mit dem türkischen Wort für „nichts“.
Auch prominente Gülen-Anhänger in Deutschland wie der Soziologe und Autor Ercan Karakoyun (siehe Interview rechts) beteuern, dass es der Bewegung um ein friedliches Miteinander gehe. „Wir sind so etwas wie eine neu entstehende deutsch-türkische Mittelschicht“, sagt Karakoyun. „Darunter sind Unternehmer, Ingenieure, Ärzte, Gastronomen.“ Es gebe keine offizielle Mitgliedschaft. Wer sich in den Initiativen engagiere, sei Teil der Bewegung. Spenden seien wie generell im Islam üblich, aber freiwillig.
Eine abschließende Einschätzung ist kompliziert. Es gibt unzählige Artikel und Bücher über Gülen – und viele Werke des Predigers selbst. Für Menschen wie Ali und Ahmet ist es natürlich ein Integrationsvorteil, dass es auch in Deutschland schätzungsweise 100 000 Gülen-Anhänger geben soll. Man hilft sich. Dankbar sind sie aber vor allem der deutschen Gesellschaft und ihren Politikern. Ali, der Unternehmer, will so schnell wie möglich eine neue Fabrik eröffnen. Steuern und Arbeitsplätze als Dankeschön.
Auch Ahmet, der Mediziner, will Deutschland gerne etwas zurückgeben. Er glaubt nicht daran, in diesem Leben noch einmal türkischen Boden zu betreten. Vor einem Jahr noch hatte er immer diesen Traum: wie deutsche oder US-amerikanische Kriegsschiffe an den türkischen Küsten anlegen, um das Land von Erdogan zu befreien. Ahmet lacht kurz. „Sehen Sie, ich bin ein Terrorist.“ Dann schaut er wieder ernst. Nachdrücklich sagt er: „Ich habe keine Sehnsucht mehr.“
Quelle: OVB Online
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