Die Rangliste der Foreign Policy und Fethullah Gülen
Fethullah Gülen, ein türkischer islamischer Gelehrter, ist in einer Umfrage zu den führenden zeitgenössischen öffentlichen Intellektuellen der Welt unter 100 Kandidaten auf Rang 1 gewählt worden. Die Umfrage wurde von der britischen Zeitschrift Prospect und der amerikanischen Zeitschrift Foreign Policy ausgerichtet.
Die Ergebnisse haben die Organisatoren der Umfrage offenbar überrascht: Auf den vorderen 10 Rängen lagen ausschließlich Muslime, darunter auch zwei türkische Staatsbürger. Die Rangliste liefert einigen Diskussionsstoff, und die Auswirkungen der Umfrage sind für viele Menschen aus ganz unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften relevant, unabhängig davon, ob sie Muslime sind oder nicht. Die Herausgeber der Zeitschriften und alle Mitarbeiter, die die Umfrage betreut haben, haben nicht in das Abstimmungsverfahren eingegriffen und ihre Ergebnisse mit der ganzen Welt geteilt. Das soll an dieser Stelle ausdrücklich gewürdigt werden.
Schon ein flüchtiger Blick auf die Kommentare zur Rangliste genügt, um einige Informationen zum Gewinner der Umfrage und zu den anderen Persönlichkeiten auf den vorderen Rängen, aber auch zu den Reaktionen auf ihre Wahl zu erhalten.
David Goohart, der Herausgeber von Prospect, gestand, vorher noch nie von Gülen gehört zu haben, und äußerte den Verdacht, Gülens Anhänger hätten „ihren Spott mit der Umfrage getrieben“. Er fügte hinzu, das Ergebnis spiegle gleichzeitig einen wichtigen politischen Trend in der Türkei wider. Hieraus lässt sich schließen, dass die Ergebnisse der Umfrage und die Reaktionen westlicher Journalisten und Herausgeber eine bedauerliche Wissenslücke in Bezug auf die Türkei und den Nahen Osten enthüllen. Da Gülen aber von den Organisatoren selbst für die Kandidatenliste nominiert wurde, müssen er und sein Engagement für Glauben, Dialog, Bildung, Erziehung, Kultur und Frieden aber zumindest einigen von ihnen bekannt gewesen sein. Die Tatsache, dass Gülen in bestimmten Kreisen im Westen nach wie vor weitgehend unbekannt ist, hat mehrere Gründe: Bis 2004 gab es auf akademischer Ebene nicht viel Interesse an seiner Person und seiner Bewegung. Seitdem jedoch wurden eine Reihe von Konferenzen veranstaltet und Hunderte von akademischen Artikeln zur Gülen-Bewegung und ihrem Beitrag zur globalen Gesellschaft verfasst. Ein anderer wichtiger Aspekt ist, dass Gülen von ‚aufgeklärten‘ Intellektuellen in seiner eigenen Heimat nur wenig Anerkennung zuteil wird. Diese Leute ziehen es vor, in seiner Person lediglich einen Prediger zu sehen oder einen ganz gewöhnlichen ‚Moschee-Imam‘. Doch auch sie können Gülens großen Einfluss auf das Denken und Handeln der Bewegung inzwischen nicht länger leugnen. Wer ihn einzig und allein als ‚religiösen Führer‘ bezeichnet, und nicht auch als produktiven Autor, sozialen Impulsgeber, Verfechter des interreligiösen Dialogs, um Versöhnung bemühten interkulturellen Meinungsmacher, Aktivisten, friedfertigen und fortschrittlichen Mentor der Zivilgesellschaft und als authentischen islamischen Gelehrten, der tut Gülen und seinem Publikum Unrecht.
Westliche Analysen der Ergebnisse und des Abstimmungsprozesses deuten auf eine mangelnde Einsicht in den gesamten nahöstlichen Kontext hin. Zum Beispiel schreiben die Organisatoren die Ergebnisse einer „beharrlichen Kampagne der Anhänger Gülens“ zu, deren Ausgangspunkt in der Erwähnung der Umfrage durch die Tageszeitung Zaman gelegen haben soll. Allerdings fragt sich dann doch, ob dies auch für den vierten Rang von Orhan Pamuk ausschlaggebend gewesen sein kann. Denn Pamuk’s Ansichten zu Glauben und Sufismus scheinen doch kaum mit denen von Gülen vereinbar zu sein. Lesen Pamuk’s Anhänger etwa auch die Zaman? Die iranische Menschenrechtsaktivistin Shirin Ebadi kam auf Rang 10. Werden die Zaman-Leser etwa auch beschuldigt, eine Vielzahl von Stimmen für Frau Ebadi abgegeben zu haben? Warum hätten sie das tun sollen?
Dass die Umfrage in der Türkei und im Nahen Osten auf so große Resonanz stieß, lässt sich auf unterschiedliche Faktoren zurückführen: In der Gülen-Bewegung gibt es auffallend viele Menschen, die mit Computern umgehen können und auch Zugang zu einem Computer besitzen. Außerdem sind die Mitwirkenden in dieser Bewegung gut ausgebildete Mitglieder der städtischen Mittelschicht. Sie verfügen über technische und kulturelle Kompetenz und besetzen wichtige Positionen in der Wirtschaft, wodurch sie offensichtlich leichter zu mobilisieren sind. Auf privater Ebene liegen ihre Prioritäten in der Respektierung persönlicher Leistung, im öffentlichen Sektor legen sie Wert auf eine Ausweitung der Meinungsfreiheit, demokratische Teilhabe und Selbstbestimmung. Die Informationsnetzwerke sozialer Bewegungen ermöglichen heutzutage eine effiziente Kommunikation, und die Mitglieder solcher Netzwerke sind oft engagierter, als selbst Mitglieder politischer Parteien es sind.
Trotzdem können sich die Organisatoren die Platzierungen von Ebadi, Pamuk und den sieben anderen muslimischen Intellektuellen nicht erklären. Es fragt sich, ob die Einschätzung der muslimischen Welt als ‚rückständig‘, ‚unterdrückt‘ und ‚im Mittelalter stehengeblieben‘ weiterhin zutrifft. Die Resultate jedenfalls zeigen, dass die muslimische Welt nicht auf der falschen Seite der großen ‚digitalen Trennungslinie‘ steht. Sie hat diese Sparte der Moderne mit Hingabe und Kompetenz angenommen. Den Ergebnissen ist außerdem zu entnehmen, dass die Muslime sich frohen Herzens, leidenschaftlich und furchtlos an allen Arten von offenen Wahlen beteiligen, sofern es ihnen nur irgendwie ermöglicht wird. Die Organisatoren der Umfrage, aber auch außenstehende Beobachter sollten sich davor hüten, Zuflucht bei unausgegorenen Verschwörungstheorien zu suchen und zu verdrängen, was die muslimische Welt ihnen sagen möchte: dass nämlich die Menschen dort friedvolle und auch demokratische Einflüsse schätzen und dass sie eifrig bestrebt sind, sich an allen Arten von zivilrechtlichen Aktivitäten zu beteiligen.
Es besteht die Gefahr, dass die Verwendung bestimmter Wörter in einigen hastig von Journalisten niedergeschriebenen Analysen dazu führt, dass Gülen und seine Bewegung in interkultureller Hinsicht nicht ganz richtig oder sogar völlig falsch verstanden werden. Nehmen wir einmal folgenden Satz: „In seiner türkischen Heimat wird er von den einen verehrt, von den anderen verschmäht.“ Zwar ist natürlich bekannt, wie sehr ihn die Protektionisten ‚verschmähen‘, aber auch ein Begriff wie ‚verehren‘ birgt für eine vom Glauben inspirierte zivilrechtliche Initiative mit muslimischem Hintergrund unangemessene und suspekte Konnotationen und Implikationen in sich.
Die Menschen in der Gülen-Bewegung schätzen Gülen für sein Wissen, seine Gelehrsamkeit, seine Aufrichtigkeit, seine Integrität, seinen Altruismus sowie auch für seine Sorge und sein Mitgefühl für andere. Es sollte nicht vergessen werden, dass die Wurzeln all dieser Qualitäten in seiner islamischen Erziehung und Bildung liegen. Andererseits jedoch resultiert daraus keine wie auch immer geartete Heiligenverehrung Gülens oder eines anderen Angehörigen der Bewegung.
Auch wenn die Organisatoren der Umfrage einige Wissensdefizite offenbaren, wurde die Gülen-Bewegung insgesamt bislang im Ausland gründlicher - das heißt objektiver - analysiert als in der Türkei. Denn dort befinden sich die akademischen Institutionen im festen Griff einer protektionistischen Elite. Freie Diskussionen innerhalb der Türkei scheinen noch immer ein ziemlich fernes Ideal zu sein. Die freie Meinungsäußerung im Land, und insbesondere in akademischen Kreisen, ist nicht mit der im Westen vergleichbar. Doch trotz aller Anfeindungen seitens der Protektionisten kennt und schätzt die große Mehrheit des türkischen Volkes Gülen und die Bewegung. Diese Tatsache wird oft übersehen. Kommentatoren würden gut daran tun, den Ergebnissen dieser Umfrage und den von unabhängigen Gelehrten und Institutionen erstellten Analysen der Bewegung gebührende Beachtung zu schenken.
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