Porträt Fethullah Gülen: Ein moderner türkisch-islamischer Reformdenker?
Viel wird derzeit nach "Reformdenkern" in der islamischen Welt gesucht. Dabei stellt sich die Frage, welche Merkmale ein solcher islamischer Reformdenker aufweisen muss und was "islamisches Reformdenken" ausmacht.
Denn zum einen gibt es Muslime, die sich selbst als islamische Reformer (z.B. als "Euro-Muslime") bezeichnen, aber nur von wenigen Muslimen wahrgenommen werden. Zum anderen gibt es diejenigen, die als solche bezeichnet werden, selbst aber sagen, dass sie den Islam nicht reformieren, sondern nur "islamisch richtig" auslegen würden.Zur zweiten Gruppe islamischer Denker gehört Fethullah Gülen, der geistige Vater der wohl aktivsten türkisch-islamischen Bewegung des späten 20. Jahrhunderts. Ihm und seinen Anhänger wurde in den Analysen zu neuem islamischen Denken in der Türkei bisher zu wenig Beachtung geschenkt.
Fetullah Gülen als "kemalistischer Muslim"?
Fethullah Gülen ist ein pensionierter Prediger, der 1938 in einem Dorf bei Erzurum im Osten Anatoliens geboren wurde und heute in den USA lebt. Während der 70er und 80er Jahre reiste er als staatlicher Prediger durch die ganze Türkei und gewann bereits damals eine weite Anhängerschaft.
In den 90er Jahren wurde er, angesichts eines wachsenden Einflusses islamistischer Tendenzen in der politischen Landschaft der Türkei, vor allem durch die bürgerlich-konservativen Parteien zu einem "Vorzeigemuslim" stilisiert, der eine Synthese zwischen islamischen Werten und der vom Kemalismus vorgegebenen Trennung von Islam und Politik anbot.
Im Jahr 1999 schließlich wurde er selbst zum Opfer einer staatlichen Kampagne, die ihn als islamistische Gefahr titulierte. Mittlerweile sind diese Anschuldigungen wieder verklungen. Fethullah Gülen lebt heute in den USA.
Gülens Bildungsnetzwerk
Fethullah Gülen ist Begründer einer islamischen Bildungsbewegung, die in den letzten 30 Jahren ein Netz von Schulen in der Türkei und im Ausland aufgebaut hat, in deren Betrieb er selbst aber nicht eingebunden ist.
Seine Anhänger engagieren sich, aus einer islamischen Motivation heraus, für moderne, "nichtreligiöse" Bildung und sind im Aufbau privater, staatlich anerkannter Bildungseinrichtungen ohne religiösen Fächerschwerpunkt aktiv.
Englisch ist hier meist die erste Unterrichtssprache. Ihr Engagement ist heute weltweit und das Resultat einer Islamsicht, die sich im türkisch-säkularen Kontext in islamisch-konservativen Kreisen entwickelt hat.
Diese ist nicht Bestandteil des vom türkischen Staat proklamierten modernen Reformislams, wie er an den theologischen Hochschulen gelehrt wird, teilweise ist sie auch in Opposition zum staatlichen Islamverständnis entstanden.
Die Konzentration der Aktivitäten auf "nichtreligiöse" Bildungsarbeit ist umso erstaunlicher, da gerade der laizistische türkische Staat unter auswärtiger Kulturpolitik z.B. in Zentralasien, aber auch in Deutschland, hauptsächlich religiöse Tätigkeiten, wie die Moscheenerrichtung oder den Aufbau von religiösen Bildungseinrichtungen versteht.
Traditionelles Islamverständnis
Bekannt ist Fethullah Gülen in der türkischen Öffentlichkeit für seine Aktivitäten im interreligiösen Bereich, seine Stellungnahmen zur Vereinbarkeit von Islam und Laizismus, seine öffentliche Verurteilung von Gewalt im Namen des Islam und vor allem für seine Stellungnahmen zur Bedeutung der Bildung im Islam.
Liest man allerdings in seinem umfangreichen schriftlichen Werk, so wird man schnell feststellen, dass Fethullah Gülen keine eigene oder gar revolutionäre neue Theologie vertritt. Sein Islamverständnis orientiert sich am konservativen Mainstream, seine Argumentationen sind traditionell, doch trotzdem erstaunen die Aktivitäten seiner Anhänger jeden Beobachter.
Seit den 80er Jahren haben sie in der Türkei ca. 150 Privatschulen, 150 dersanes (Zentren, die auf den Aufnahmetest für die Universitäten vorbereiten) sowie zahlreiche Wohnheime für Schüler und Studenten errichtet.
Der Bildungsdiskurs Fethullah Gülens wird vor allem über ein seit den 80er Jahren aufgebautes Mediennetzwerk verbreitet, zu dem eine Nachrichtenagentur, ein Fernsehsender, eine Tageszeitung, mehrere Zeitschriften und Verlage gehören.
Hier wird auch über die Aktivitäten der Anhänger berichtet. Alle Einrichtungen der Anhänger sind formal voneinander unabhängig, sie sind aber auf der Beziehungsebene der Leiter miteinander zu einem Bildungsnetzwerk verbunden.
Weltweit erfolgreiche Bildungskonzepte
Nach dem Fall des "Eisernen Vorhangs" ermutigte Fethullah Gülen seine Anhänger, seine Ideen auch im Ausland umzusetzen. Dabei konnte er auf Geschäftsleute zählen, die seine Ideen auch im Ausland unterstützen wollten.
Einen besonderen Schwerpunkt bildeten hierbei das Gebiet der ehemaligen Sowjetunion und der Balkan. Der Aufbau der Schulen wurde vom türkischen Außenministerium gefördert, die Abschlüsse vom türkischen Bildungsministerium anerkannt.
Dazu kommen weitere Bildungseinrichtungen der Anhänger Gülens in China, Bosnien-Herzegowina, Dänemark, Deutschland, Großbritannien, Jakutien (Russ. Föd.), Kambodscha, den Niederlanden, Frankreich, den Philippinen, Südkorea, Tansania, Tschetschenien (Russ. Föd.) und Thailand, die nicht an das türkische Erziehungsministerium angebunden sind.
Sichtliche Ausnahme sind die arabischen Staaten, ein Engagement von Türken in solch zentralen Bereichen wie dem Bildungssystem ist hier wohl nicht denkbar. In Deutschland ist die Bewegung mit Nachhilfezentren in nahezu jeder größeren Stadt aktiv und bemüht sich, private Schulen zu eröffnen, ohne dabei eine offizielle Zentrale zu besitzen, was jedoch nicht bedeutet, dass die Aktivitäten im Netzwerk nicht koordiniert werden.
Der "Gülen-Diskurs"
Dieses Bildungsengagement - Gülens eigene Haltung zu Islam und Politik ebenso wie die Positionen der Medien des Netzwerks - weisen neue Impulse aus dem islamischen Milieu der Türkei auf.
Ist Gülen damit ein islamischer Reformer? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich der Ideenwelt Fethullah Gülens zuwenden. Dabei muss zwischen Reformtheologie und innovativem islamischem Denken unterschieden werden.
Der "Gülen-Diskurs" besteht aus zahlreichen Elementen, die hier nur angerissen werden können. Ein Merkmal des "Gülen-Diskurses" ist die Mehrdeutigkeit seiner Aussagen, die unterschiedliche "Verpackung" seiner Ideen je nach Adressat.
Hierbei liegt seine Leistung nicht in der neuen Interpretation religiöser Texte, sondern einer neuen Kombination verschiedener, allgemein anerkannter Elemente zu neuen Aussagen. Grundzüge seines Diskurses sind:
Bewahrung des Islams in der Moderne
1. Die Ideen des türkischen Aktivisten Said Nursi (gest. 1960). Dessen Sicht des Islams war von mehreren Grundannahmen geprägt.
- Der moderne säkulare Staat ist ein mächtiger Gegner. Eine direkte Konfrontation schadet den eigenen islamischen Interesse, da der Staat sie mit Repression beantworten würde.
Für Nursi ist klar, dass Gott das Individuum für sein individuelles Leben beurteilt. Eine islamische Erneuerungsbewegung müsse sich daher auf die Rechtleitung von Individuen konzentrieren, die staatliche Ordnung muss als Rahmen für das eigene Handeln akzeptiert werden, um sich den wichtigeren Aufgaben zuzuwenden. - Der Mensch lebt in einem Zeitalter der Naturwissenschaft und Technologie, zu dem es keine Alternative gibt. Entweder gestaltet man das Zeitalter religiös mit oder man verliert sämtliche Gestaltungskraft. Fethullah Gülen erklärt hierzu: "Die Unzufriedenen haben noch nie Geschichte gestaltet."
Damit setzt er sich gegen revolutionäre Vorgehensweisen ein. Dem Rückzug aus der säkularen Gesellschaft stellt er das aktive Engagement (und damit auch ihre Umgestaltung) in derselben entgegen. - Nursi und Gülen sehen in der modernen Wissenschaft ein Mittel, Gott über das Studium seiner Schöpfung auch rational zu begreifen. Dies sei daher die einzige Möglichkeit, Religion in der Moderne zu bewahren. Dadurch wird dem rationalen Studium der Welt, für dessen Grundlage die säkulare Schule sorgt, eine religiöse Bedeutung zugeschrieben.
Ebenso bildet die Wissenschaft die Grundlage für wirtschaftlichen Wohlstand, sozialen Frieden und nationale Unabhängigkeit, alles Ziele, die es für den eigenen Staat und für ein Überleben des Islams in der Moderne zu erreichen gilt. - Theologische Debatten haben in einer Zeit, in der der Bestand der Religion insgesamt gefährdet ist, nichts zu suchen. Theologie sollte daher den Konsens betonen und Detailfragen ausklammern.
Türkischer Nationalismus und Islam
2. Wesentlich für den Aufstieg Fethullah Gülens in der Türkei ist die von ihm vertretene Synthese von türkischem Nationalismus und Islam. Dies wird von seinen Anhängern auch für andere Länder übernommen, wobei das Nationalismusprinzip erweitert wurde.
Gülen und seine Anhänger sehen die Welt der Nationalstaaten ebenso als gegeben, wie die Globalisierung. Sie glauben heute (dies war für Gülen in den 80er Jahren durchaus anders) nicht, dass die eigene islamische Identität durch eine Abschottung nach außen erhalten werden kann.
Gülen hält die eigenen Auffassungen für durchsetzungsfähig und tritt daher für offene Grenzen ein, um dem Islam wieder Geltung zu verschaffen. Die Globalisierung müsse als Chance genutzt werden, weil man sich ihr nicht widersetzen könne.
Die Mitgestaltung der modernen Welt kann nach seiner Auffassung nicht durch Theologie erreicht werden, sondern über säkulare Bildungseinrichtungen, den Einsatz (moderner) Medien sowie durch Partizipation und Einfluss in der Geschäftswelt.
Was der Islam dem Menschen an Pflichten abverlangt, ist für ihn klar definiert, und hier bewegt er sich im konservativen Konsens. Es sei jedoch weiteres Wissen nötig, um die materielle wie auch die ideologische Abhängigkeit vom Westen (die Orientierung an Materialismus und Positivismus) aufzuheben. Diese kritisiert Fethullah Gülen ebenso wie den politischen Islam.
Die national-kulturelle Unabhängigkeit kann nur durch die eigene Ausgestaltung der Moderne gerettet werden, nicht jedoch durch ihre Ablehnung.
Moral und Bildung vor Politik
3. Dementsprechend sind die Predigten Fethullah Gülens theologisch nicht innovativ. Er predigt klassisch-islamische Handlungsmaximen: cihad (Dschihad=, "Anstrengung" auf dem Weg Gottes"), irşad ("Rechtleitung"), tebliğ ("Verbreitung" des Islam), und vor allem hizmet (friedlicher "Dienst" für die Sache Gottes) und belegt diese durch theologisch etablierte Argumentsmuster.
Auffällig ist die Konventionalität der Argumentation für das islamisch Richtige, bei gleichzeitig neuen Wegen in der Umsetzung. Hier wird der Schullehrer zum Propheten, der durch seine Wissensvermittlung die oben genannten islamischen Prinzipien erfüllt.
Für Gülen ist entscheidend, dass die islamischen Prinzipien unveränderlich sind, aber jeweils in der Zeit konkretisiert werden müssen. So mag ein Korankurs in einer bestimmten Zeit die beste Investition für islamische Spenden gewesen sein.
In einer Zeit jedoch, in der "an jeder Ecke eine Moschee steht", gebe es wichtigere islamische Aktivitäten, so kann man von Gülen und seinen Anhängern hören.
Ihm gelingt es so, im konservativ-islamischen Bereich Kräfte für neue islamische Aktionsfelder zu gewinnen, indem er traditionell-islamische Termini verwendet, sie absolut konventionell definiert, aber gleichzeitig mit sehr innovativen Implikationen für die Gegenwart versieht.
Kritische Fragen, Widersprüche von islamischem und säkularem Recht oder von islamischen Staatskonzepten umgeht er nicht durch den Rückgriff auf türkische, iranische oder arabische Reformgelehrte, die Geschichte und koranischen Text neu interpretieren.
Er argumentiert, dass Fragen von Moral und Bildung essentieller für den heutigen Islam seien als politische Fragen und dass die Muslime heute mit ganz anderen Problemen zu kämpfen hätten, als die Frage nach der Einführung der Scharia.
4. Gülen entwickelt eine Werksethik, die zum einen neue Felder der Gesellschaft als islamisches Handlungsfeld erschließt, zum anderen Arbeit und Effizienz zu einer Handlungsmaxime erhebt.
In diesem Zusammenhang wird Arbeit, die man einem islamischen Ziel widmet (selbst dann, wenn man nur einen Teil des Erwerbs spendet), zu einem gottesdienstlichen Akt. Insbesondere die Bildungsarbeit und deren Unterstützung erhält den höchsten islamischen Wert.
5. Die Vorstellungen darüber, wie islamische Maximen bestmöglich organisatorisch umgesetzt werden können, werden von der Einschätzung getrieben, dass unter allen Umständen Reibungsverluste und Ineffizienz vermieden werden sollten.
Ineffizienz erhält dabei einen islamisch verwerflichen Zug. Zusätzlich werden Strategien vorgegeben, wie der Gläubige seiner Pflicht gegenüber Gott bestmöglich nachkommen kann. Diese Strategien dienen der effizienten Umsetzung islamischer Anliegen, konkreter Projekte und individueller Religiosität.
Gülen propagiert vor allem die Organisationsformen der eigenen Anhänger (die cemaat) als das Mittel, mit dem in der heutigen Zeit das eigene Seelenheil mit Gruppenanliegen und gesamtgesellschaftlichen Zielen verbunden werden kann.
"Islamisierter" Pragmatismus
Er "islamisiert" damit die Organisationsformen seiner Anhänger und ihre Strategien. Beide müssen flexibel sein, damit möglichst viele Menschen bei der Umsetzung der Ziele der cemaat behilflich sein können. Eine Gesellschaft kann für ihn nur durch die Individuen verändert werden. Es ist die Ausbildung dieser "neuen Generation", die sich die cemaat auf ihre Fahnen geschrieben hat.
6. Fethullah Gülen und seine religiösen Anhänger selbst folgen einem sehr klassischen Islamverständnis, sie propagieren keinen neuen Reformislam. Im Umgang mit anderen jedoch ist es ihnen wichtiger, wenigstens einen Teil ihrer Wertvorstellungen zu vermitteln (auch wenn sie dafür ihre islamische Motivation in den Hintergrund treten lassen), als durch ein zu offenes islamisches Auftreten gar keine Wirkung über die islamischen Kreise hinaus zu haben.
Entscheidend für den Erfolg der Ideen Gülens ist diese Kombination von konventionellen und konservativen Argumenten, die mit neuen Vorschlägen zur Umsetzung neue Zielgruppen erreicht.
Bekim Agai
© Qantara.de 2004
Bekim Agai, Dr. phil., geb. 1974 hat Islamwissenschaft, Geschichte und Psychologie in Bonn und Kairo studiert. Seit 2003 ist er wissenschaftlicher Assistent am Orientalischen Seminar der Universität Bonn.
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