Yaqin (Gewissheit)
Yaqin (Gewissheit) heißt, ,nicht an der Wahrheit der Dinge zweifeln' und ,sich ein exaktes Wissen aneignen, das über alle Zweifel erhaben ist'. Dieser Begriff wird auch im Sinne von Überprüfung, Streben nach Überzeugung, bzw. Durchführung von Studien und energischer Bemühung, zu einer Überzeugung zu gelangen, gebraucht. Yaqin ist eine spirituelle Stufe, zu der der Reisende auf dem Weg zum Wissen um Gott gelangt und die er erfährt. Nur Menschen, denen die Fähigkeit zur inneren Entwicklung ihrer Persönlichkeit eigen ist, können diese Stufe erklimmen. Yaqin wird nicht zur Bezeichnung des Wissens Gottes gebraucht, denn dieses ist grenzenlos und nimmt daher auch weder ab noch zu. Gott hat auch keinen Namen, unter dem Er bekannt wäre als jemand, der ,Gewissheit besitzt oder verleiht'. Die Gewissheit ist vielmehr eine Stufe, die durch Studium und Überprüfung dessen, was angezweifelt wird, erlangt wird. Gott hingegen kennt weder Zweifel an den Dingen, noch braucht er Bestätigung.
Gelehrten auf der Suche nach der Wahrheit zufolge, bedeutet yaqin ,Überzeugtsein von der Tatsache, dass die grundlegenden Inhalte des Glaubens wie z.B. die Existenz und die Einheit Gottes der Wahrheit entsprechen und nicht anzuzweifeln sind'. Als yaqin wird auch der erfolgreiche Versuch bezeichnet, durch die Beobachtung oder Erfahrung der Glaubensinhalte, die für gewöhnliche Menschen maßgeblich sind, und durch die Wahrnehmung der Sphären hinter der materiellen Welt bzw. durch das Eintreten in diese Sphären, die Wahrheit herauszufinden. Yaqin kann einerseits als ein Startpunkt, andererseits aber auch als ein Endpunkt betrachtet werden, an den der Reisende gelangt, indem er sich alle Quellen des Wissens zu Nutze macht und auf allen Wegen der Beobachtung und der Wahrnehmung wandelt. Ein Mensch der Wahrheit, der an diesen Punkt angekommen ist, reist häufig zu dem, was ewig ist; er unternimmt eine ,Himmelsreise' in seinem Herzen und erreicht den Horizont des Verses Da wankte der Blick nicht, noch schweifte er ab.[1] Er reist inmitten der leuchtenden Manifestationen Gottes. Damit er die Zeichen Gottes erkennen kann, werden ihm eine Zunge zum Sprechen, Augen zum Sehen und Ohren zum Hören verliehen, in denen die Wahrheit einen festen Platz hat. Der Reisende auf dem Weg zur Ewigkeit wird also als ein Resultat seiner fortgesetzten Beobachtungen und Studien des Buchs des Universums und der Dinge und Ereignisse, die in ihm enthalten sind, in die Lage versetzt, die unnachahmlichen, nur Gott eigenen Siegel eben dieser Dinge und Ereignisse wahrzunehmen. Dadurch, dass der Mensch die Hintergründe, die sich ihm während seines Studiums in der äußeren wie auch in der inneren Welt präsentieren, studiert und über sie reflektiert, entdeckt er auch die Wahrheiten, die sich hinter der sichtbaren Welt verbergen. Weil er darüber hinaus im wunderbaren geheimnisvollen Klima der Göttlichen Offenbarung von Koran und Sunna lebt, fühlt er die Manifestation des Verborgenen Schatzes in seinem Herzen. Er wird sich der Zeichen und Hinweise bewusst, die dem Prisma seines Bewusstseins entstammen und macht seine Erfahrung mit ihnen; er schickt sie direkt an seine Sinne und Talente. Diese Zeichen und Hinweise reflektieren die Strahlen der Geschenke Gottes, die der äußeren und der inneren Welt und der Göttlichen Offenbarung entspringen. In dieser Bedeutung und auf dieser Stufe ist yaqin als ein Geschenk zu betrachten, mit dem Gott diejenigen bedenkt, die Ihm nahe stehen.Selbst auf ihrer untersten Stufe ist die Gewissheit so stark, dass sie das Herz mit Licht erfüllt und den Verstand vom Nebel der Zweifel befreit. Sie lässt den Wind von Freude, Heiterkeit und Befriedigung in der inneren Welt des Menschen wehen. Dhu l-Nun al-Misri zufolge lässt die Gewissheit das Herz des Menschen von dem Bedürfnis, die Ewigkeit zu erreichen, überfließen. Dieses Bedürfnis wiederum lehrt den Menschen, ein bescheidenes Leben zu führen. Durch Askese gewinnt der Mensch die Fähigkeit, vernünftig zu denken und weise zu sprechen. Ein Mensch, der die Flügel der Askese besitzt und in die Sphäre der Weisheit fliegt, vergisst daher nie, was seine Bestimmung ist, und denkt unablässig an das Leben nach dem Tod. Er spürt unentwegt, dass Gott ihn begleitet, auch wenn er sich unter Menschen befindet.[2]
Schon bei den ersten Schritten auf die Gewissheit zu beginnt sich der Schleier zwischen der materiellen und der immateriellen Seite der Existenz zu lüften; im Anschluss kann der Mensch dann die Sphäre hinter der materiellen Welt wahrnehmen und - als ein Resultat der Tatsache, dass sein Herz von den Manifestationen Gottes durchdrungen ist - Frieden und Befriedigung erlangen. Fortan ist er gänzlich von allen Arten von Zweifeln an den Wahrheiten seines Glaubens befreit. Genau wie Ali ibn Abi Talib haben auch einige andere von jenen, die diese Stufe der Gewissheit erklommen haben, erklärt:
„Selbst wenn sich der Schleier zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren lüften würde, würde meine Gewissheit nicht anwachsen.[3]
Einige Schritte über diesen Punkt hinaus, an dem sich dem Reisenden die Realität der Dinge enthüllt, macht er Bekanntschaft mit der Stufe, auf der er in der reinen Sphäre der Geschenke Gottes reist, die kein Auge je gesehen, kein Ohr je gehört und kein Verstand je begriffen hat.
Um Gewissheit zu erlangen, muss sich der Eingeweihte zu Beginn seiner Reise darum bemühen, die notwendigen Voraussetzungen hierfür zu erbringen. Was er aber dann später verwirklicht, entspringt einzig und allein der reinen Gnade Gottes und ist ein Geschenk, das Er uns gewährt. Ohne sich ein angemessenes Wissen um Gott erworben zu haben, kann niemand Gewissheit erlangen. Wissen um Gott kann man sich aneignen
1) durch ein genaues Urteil über oder einen klaren Blick auf die Dinge und Ereignisse;
2) durch die Fähigkeit zu genauem und ausgewogenem Denken;
3) durch lautere Absicht;
4) durch das Studium der Beweise für die Existenz Gottes und Seine Einheit und
5) durch das Nachdenken über Seine Handlungen und die Manifestationen Seiner Namen und Attribute.
Das Wissen um Gott ist das Licht, das die innere und die äußere Welt des Eingeweihten erleuchtet - ein Licht, das in allen Winkeln der Existenz strahlt. Unter dem Einfluss dieser Strahlen des Lichts sieht der Eingeweihte alle Dinge so, wie sie wirklich sind. Befreit von den Beschränkungen der Vielfalt (der Dinge und Ereignisse) erkennt er die Einheit Gottes und ist von den unbeschreiblichen spirituellen Freuden hingerissen.
Zu Beginn seines Weges zur Gewissheit mag der Eingeweihte zwar noch Unbehagen verspüren; dieses macht im weiteren Verlauf seiner Reise aber unvorstellbaren Freuden und innerem Frieden Platz. Diejenigen, die nicht zwischen dem, was der Reisende anfangs spürt, und dem, was er später erfährt, unterscheiden können, ziehen den falschen Schluss, Gewissheit sei mit einem Risiko verbunden. In Wirklichkeit spenden das konstante Gefühl der Begleitung Gottes und die spirituelle Freude, die dieses Gefühl mit sich bringt, Frieden und Sicherheit vor allen spirituellen Unwägbarkeiten und eventuellen Abweichungen. Unbehagen und Unruhe verspürt der Reisende nur am Anfang seines Weges zur Gewissheit. Wenn Gewissheit riskant sein soll, dann gibt es keine Stufe, auf der sich der Mensch nicht in Gefahr begibt. Der Prophet erklärte:
Selbst ich könnte nicht errettet werden (vor dem Höllenfeuer oder vor Gottes Bestrafung durch meine eigenen Taten), wenn Gott mich nicht in Seiner Gnade umarmen würde.[4]
Sicherheit vor Unruhe und Unwägbarkeiten und innerer Frieden sind wie frische Früchte, die die Gewissheit auf Gottes Geheiß hin abwirft.
Die Sufis behandeln die Gewissheit mit Verweis auf den Koran, indem sie Kategorien unterscheiden:
1) Die Gewissheit, die dem Wissen entspringt: Sie kennzeichnet einen starken, fest verankerten Glauben an alle Grundlagen des Glaubens (vor allem an die Existenz und die Einheit Gottes), der sich aus der genauen Beobachtung und dem Studium der entsprechenden Zeichen und Merkmale ableitet. Der Eingeweihte muss von diesen Grundlagen wirklich fest überzeugt sein.
2) Die Gewissheit, die direkter Beobachtung oder dem Sehen mit eigenen Augen entspringt: Sie bezeichnet ein unbeschreibliches Maß an Gewissheit und Wissen um Gott, das sich der Reisende durch die Beobachtung und Entschleierung derjenigen immateriellen Wahrheiten erwirbt, die gewöhnlichen Gläubigen verborgen bleiben, aber dennoch Grundlagen der Glaubensprinzipien darstellen.
3) Gewissheit, die aus direkter Erfahrung stammt: Sie bezeichnet den Zustand, von Gottes ständiger Begleitung verwöhnt zu werden, ohne dass es da noch irgendeinen Schleier gäbe. Nur jemand, der diese Gunst erfahren hat, kann ihre genaue Beschaffenheit charakterisieren. Einige haben sie jedoch als Selbstauflösung in Gott beschrieben bzw. als Erlangen eines Daseins in Gott.
Diese drei Kategorien der Gewissheit lassen sich an einem simplen Beispiel verdeutlichen:
Die Gewissheit die der Beobachtung und Nachforschungen auf biologischer Ebene entspringt, ermöglicht dem Menschen, schon vor seinem Tod zu wissen, dass er sterben wird. Sich einiger metaphysischer Phänomene gewahr zu werden, z.B. den Engel zu sehen, der kommt um die Seele abzuholen, und einen Eindruck von der Zwischenwelt des Grabes zu gewinnen, kann man als eine Art von Gewissheit betrachten, die direkter Beobachtung entstammt. Den Tod direkt durch das Sterben zu erfahren, bedeutet Gewissheit durch direkte Erfahrung.
Die Gewissheit, die sich auf abstrakte Wahrheiten wie die Namen und Attribute Gottes bezieht, welche sich aus direkter Beobachtung und Erfahrung ableiten, ist eng mit der persönlichen Erfahrung des Menschen verbunden; daher übersteigt es meine Kompetenz, nähere Einzelheiten dieser Form von Gewissheit zu schildern.
[1] 53:17
[2] siehe Quschairi, ar-Risala, 180
[3] Ali al-Qari, Asrar al-Maru'a, 286
[4] Bukhari, Riqaq, 18; Muslim, Munafiqun, 71-78"
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