Mahabba (Liebe)

Mahabba (Liebe) beinhaltet Zärtlichkeit, warmherzige Gefühle und Zuneigung. Wenn die Liebe alle Gefühle des Menschen berührt und durchdringt, spricht man von Leidenschaft, und wenn sie so tief geht und so unwiderstehlich ist, dass das Verlangen nach Vereinigung brennt, von Inbrunst und Schwärmerei. Von den Sufis wurde die Liebe als ,die Beziehung des Herzens mit dem Wahren', als , unwiderstehliches Verlangen nach Gott', als ,Versuch, Seinen Wünschen in allen eigenen Handlungen und Gedanken zu entsprechen', oder als ,bis zur Zeit der Vereinigung mit Gott maßlos entzückt und berauscht sein' definiert. Alle diese Definitionen können unter den Obergriffen ,Aufenthalt in der Gegenwart Gottes' und ,Befreitsein von allen vergänglichen Beziehungen' zusammengefasst werden.

Wahre Liebe bedeutet, dass der Liebende ganz in seinem Geliebten aufgeht, dass er im Innern stets bei Ihm ist, dass er Ihn immerzu spürt und von allen anderen Begierden und Wünschen frei ist. Das Herz eines Menschen, der eine so hohe Stufe der Liebe erreicht hat, schlägt in jedem Moment mit einem neuen Gedanken an den Geliebten; seine Vorstellungskraft reist unablässig in Seiner mysteriösen Sphäre umher, seine Gefühle empfangen ständig neue Botschaften von Ihm, sein Wille fliegt mit diesen Botschaften davon, und er brennt geradezu auf ein Treffen mit Ihm.

Wenn ein Liebender, der sein Ich mit den Flügeln der Liebe transzendiert und seinen Herrn an den Punkten Leidenschaft und Inbrunst trifft, seine Verantwortung gegenüber dem König seines Herzens erfüllt, geht sein Herz im Anblick Gottes auf. Sein Wesen wird von den Lichtern der Pracht Gottes ,verbrannt' und verliert sich in Bewunderung und Erstaunen. Mit dem Glas der Liebe an den Lippen sieht er mit an, wie sich die Schleier des niemals Geschauten der Reihe nach vor seinen Augen heben. Er ist berauscht vom Studium der Bedeutungen, die in Strahlenform hinter dem Schleier sichtbar werden, und hingerissen von dem Vergnügen, zu beobachten, was sich dort verbirgt. Er geht und steht auf Geheiß Gottes. Wenn er spricht, dann inspiriert durch Ihn; schweigt er, dann in Seinem Namen. Manchmal befindet er sich auf einer Reise zu Ihm, gelegentlich wird er auch von Ihm begleitet; dann wieder ist er damit beschäftigt, Seine Botschaft auch anderen nahe zu bringen.

Im Kontext der Liebe Gottes zu seinen auserwählten Dienern haben einige die Liebe als ,das Gewähren von Gunst und wohlwollendem Handeln' bezeichnet; im umgekehrten Fall der Liebe der Diener zu ihrem Gott sprechen sie von ,Gehorsam', ,Verehrung' und ,Unterwerfung'. Die folgenden Zeilen von Rabi'a al-Adawiyya bringen dies schön zum Ausdruck:

„Du sprichst davon, Gott zu lieben, während du Ihm den Gehorsam verweigerst;
Bei meinem Leben schwöre ich, das ist seltsam.
Wärest du in deiner Liebe aufrichtig, würdest du Ihm gehorchen,
Denn ein Liebender gehorcht dem, den er liebt.

Mahabba basiert auf zwei Grundpfeilern:

1) Der erste manifestiert sich in den Handlungen des Liebenden. Der Liebende bemüht sich stets, den Wünschen seines Geliebten nachzukommen.

2) Der zweite bezieht sich auf die innere Welt des Liebenden, der sich innerlich von allem, was keine Beziehung zu Gott hat, abkapseln sollte. Wahre Menschen Gottes meinen genau das, wenn sie von Liebe sprechen. Ihnen zufolge kann die emotionale Sorge um oder die Liebe zu irgendeine(r) Art von Vergnügen nicht als Liebe im eigentlichen Sinne betrachtet werden. Dasselbe gelte auch für die spirituellen Freuden. Eine solche Liebe, eine solch emotionale Sorge bzw. solche spirituellen Freuden könnten nur als gegenständliche Liebe betrachtet werden.

Nicht alle Liebenden lieben mit der gleichen Intensität. Die Liebe variiert je nach spiritueller und emotionaler Tiefe des Liebenden, je nach Grad seiner Bewusstheit um den Geliebten und je nach Vertrauen, das er Ihm entgegenbringt.

1) Die Liebe derer, die sich am Anfang ihres Weges befinden, ist noch nicht fest verwurzelt und daher auch nicht konstant. Sie träumen davon, dass es ihnen gelingt, die Stufe vollkommener Tugend zu erklimmen und können beizeiten einige Zeichen des Wissens um Gott empfangen. Es gibt Momente, in denen sie von den ,Lichtblitzen' an ihrem Horizont wie elektrisiert sind und ein undeutliches Gefühl von Erstaunen und Verwunderung verspüren.

2) Diejenigen, die einen weiten Weg zurückgelegt haben, fliegen im Himmel der Liebe zum höchsten Punkt. Sie leben in der freundlichen Atmosphäre des Koran als Verkörperungen und Beispiele der guten Moral des Propheten Muhammad. Und während sie sich bemühen, die gute Moral des Propheten zu repräsentieren, erwarten sie weder materielle oder spirituelle Belohnungen noch irgendwelche Gunstbeweise. Selbst auf dem Gipfel ihrer heiligen Repräsentation senken sie wie Obst tragende Bäume, deren Äste sich unter dem Gewicht ihrer Früchte biegen, die Flügel ihrer Demut und gedenken immerzu ihres Geliebten. Werden sie durch einen Fehler oder einen Irrtum aufgerüttelt, gehen sie hart mit sich ins Gericht.

3) Diejenigen, die in der Liebe zu Gott am weitesten fortgeschritten sind, sind wie Regenwolken im ,Himmel' des Islam. Sie fühlen die Existenz durch Gott, sie leben mit Ihm, und sehen und atmen durch Ihn. In einem endlosen Kreislauf sind sie von den Schmerzen der Trennung (von Ihm) und von dem Wunsch, Ihn zu treffen, erfüllt. Werden sie aber von diesen entlastet, besteigen sie ein Licht und steigen zur Erde hinab, um die ganze Existenz, lebend oder leblos, zu umarmen.

In welchem Stadium der Liebe man sich auch befinden mag - jedem, der sich Gott mit Gefühlen, die von Herzen kommen, und mit aufrichtiger Begeisterung zuwendet, wird eine Belohnung entsprechend der Tiefe seiner Gefühle zu Ihm und der Beschäftigung mit Ihm zuteil werden. Angehörige der ersten Gruppe von Liebenden erfahren eine eigene Begünstigung und Gnade, während jene der zweiten Gruppe befreit von ihren charakterlichen Fehlern den Horizont der Wahrnehmung der Attribute ,Gnade' und ,Herrlichkeit' erreichen. Diejenigen Menschen, die der dritten Gruppe angehören, werden vom Licht Seines Wesens erleuchtet und sich der Realität der Dinge bewusst, indem sie die Dimension der Existenz hinter dem Schleier kennen lernen. Das heißt: Der Allmächtige manifestiert die Lichter Seiner Herrlichkeit, um die der Körperlichkeit entspringenden Eigen-schaften derjenigen, die Er liebt, zu verbrennen. Er möchte diese Menschen in die Sphäre Seiner Attribute ,der Sehende' und ,der Hörende' erheben. Er lässt sie sich ganz der Tatsache bewusst werden, dass sie - ganz auf sich allein gestellt - vor Ihm arm und hilflos sind, und füllt ihre Herzen mit den Lichtern der Existenz des Göttlichen Wesens.

Ein Liebender dieser Stufe der Liebe, der mit dieser großen Gnade Gottes belohnt wird, erringt ein ewiges Leben, das weder als Existenz noch als Nicht-Existenz beschrieben werden kann. Ähnlich einem Stabeisen, das ins Feuer geworfen wurde und daher einem brennenden Stab ähnelt kann er das Wesen Gottes und Seine Manifestationen nicht wahrnehmen und fasst seine Gefühle und Erfahrungen in falsche Begriffe wie ,Inkarnation' und ,Einheit' (mit Gott). Unter diesen Voraussetzungen müssen die festbegründeten Kriterien der Scharia zu Rate gezogen werden. Die Worte, die Menschen mit einem beträchtlichem Maß an Spiritualität fanden, um die Liebe zu Gott zu beschreiben, dürfen nicht zum Maßstab genommen werden; denn diese Menschen verlieren sich in der Liebe zu Gott und sind von Ihm berauscht. Andererseits dürfen wir aber auch keine Feindseligkeit gegenüber den Freunden Gottes aufkommen lassen, die der Prophetentradition Der Mensch ist mit dem, den er liebt.[1] zufolge mit der ständigen ,Begleitung' Gottes belohnt werden. Dem ,hadith qudsi' Wer sich Meine Freunde zum Feind macht, hat auch Mir den Krieg erklärt.[2] nach zu urteilen, würden wir sonst Gott, dem Allmächtigen, den Krieg erklären.


[1] Tirmidhi, Zuhd, 50
[2] Bukhari, Riqaq, 38"

 

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