Mitgefühl

Die ganze Welt durchlebt in der heutigen Zeit eine kritische Phase. Manche Regionen sind besonders gefährdet, die Situation ist bedrohlicher denn je. Eine Zerstörung des Gleichgewichts der Kräfte, chaotische Zustände, völlige Konfusion - all das erscheint nahezu unabwendbar. Es gibt Gemeinschaften und bestimmte Elemente innerhalb dieser Gemeinschaften, die ganz offensichtlich von Wut, Hass und Abscheu zerfressen sind. Sie schmieden Pläne für Mord und Zerstörung, die früher niemand für möglich gehalten hätte. Ganze Völker oder zumindest einzelne Volksschichten wüschen sich sehnlichst, Menschen oder Gruppen, die sie als ,anders' empfinden, loszuwerden; etwa so, als handelte es sich bei diesen ,anderen' um Geflügel, das von der Vogelgrippe befallen ist und nun notgeschlachtet werden muss. Ihr hinterhältiges Gejammer steckt voller Feindseligkeiten, böswillig entwerfen sie wirklichkeitsferne Szenarios, die Zwietracht säen.

Menschen, die unter solchen Bedingungen aufwachsen, haben das Wort Liebe aus ihrem Wortschatz verbannt, sie wissen nicht, was Liebe ist, und ihre Antipathie kennt keine Grenzen. Deshalb können sie nie genug Hass bekommen. Sie sind stets missgünstig und schaffen es nicht, ihren Groll hinter sich zu lassen. Ja sie versuchen es nicht einmal und laufen jeder Bosheit sofort hinterher. Im Bann ihrer negativen Gedanken begehen sie ein Unrecht nach dem anderen und trachten auch noch danach, ihr Tun als rechtmäßig auszugeben. Die gleichen Grausamkeiten, die ein Tyrann früherer Epochen auf sein ganzes Leben verteilte, verüben diese charakterlosen Menschen in einigen wenigen Jahren oder sogar Monaten. Ihre Talente und Begabungen liegen brach, und ihr Verstand setzt aus. Sie haben jede Orientierung verloren, sodass sie nicht mehr richtig denken und sich auch nicht mehr normal verhalten können. Von inneren Widersprüchen zerfressen, lassen sie ihrer Wut nicht selten freien Lauf und richten in ihrem Umfeld verheerende Schäden an. In ihrer erbarmungslosen Rage geraten sie dabei völlig außer sich.

All dies lässt sich heutzutage von Menschen und Machthabern in vielen Gesellschaften der Welt behaupten. Manche von ihnen erwecken den Eindruck, als hätten sie Sicherheit und Frieden den Krieg erklärt. Sie vergehen sich nicht nur an ihrem persönlichen inneren Frieden, sondern demontieren auch die öffentliche Sicherheit. Noch schlimmer indes ist, dass sie zwar bereitwillig Gewalt anwenden, andere aber glauben machen wollen, sie träten für Freiheit und Selbstbestimmung ein. Sie führen das Leben von Menschen, die von den Unterdrückten verflucht werden, und von der Leine gelassen führen sie sich auf wie Teufel.

So sieht die Realität aus, und weder vermögen wir den in ihnen brodelnden Hass zu ersticken noch ihre Streitlust zu bändigen. Es fehlt uns an Mitteln und Macht, die uns umgebenden schwelenden Feuer von Aufwiegelung und Demagogie zu löschen. Aber: Wir können und wir werden all denen, die ihre Menschlichkeit noch nicht gänzlich verloren haben, das belebende Elixier des Mitgefühls reichen. Mit Hilfe dieses Tranks werden wir versuchen, alle Hindernisse zu überwinden und standzuhalten.

Das Mitgefühl, das in den aufrichtigen Bemühungen großherziger Menschen zu Tage tritt, hat schon zahllose Male üble Provokationen dämpfen und aus der Welt schaffen können. Es hat die Menschheit davor bewahrt, in den Abgründen der Vernichtung zu versinken. Oft genug hat es tiefe Schluchten, die wie Fallgruben der Hölle erschienen, in Paradiesgärten verwandelt. Mitgefühl zu haben bedeutet, andere Menschen zu lieben und sich um sie zu sorgen, ohne dafür irgendeine Gegenleistung zu erwarten; es bedeutet auch, die Unterdrückten und Unterprivilegierten zu unterstützen und sich ihnen mit größtmöglicher Warmherzigkeit und Aufrichtigkeit zu nähern. Im Mitgefühl manifestieren sich die Tugenden Gottes und der Atem des Himmels; Mitgefühl ist auch ein anderer Name für Mutterliebe. Die glücklichen Menschen, deren Herz von Mitgefühl durchdrungen ist, reichen den Bedürftigen selbstlos die Hand. Sie geben ihr Bestes, um auch die Unglücklichen und Bedauernswerten zu erreichen, empfinden deren Leid und Einsamkeit nach und sprechen ihnen Trost zu. Das Mitgefühl hüllt die spirituell Erblindeten in helles Licht und lässt die Tauben und Unempfindsamen wieder hören. Es lässt sie spüren, was sie dringender als alles andere brauchen. Die Autorität der stillen Demonstration von Mitgefühl lässt selbst unbeherrschte Tyrannen innehalten und das eigene Tun hinterfragen, und sei es nur einen kurzen Moment lang. Der Gesandte Gottes bezeichnete das Mitgefühl als eines der schönsten Charakteristika eines Gläubigen. Er sagte zum Beispiel: Wer jüngeren Menschen nicht mit Barmherzigkeit begegnet und ältere Menschen nicht respektiert, ist keiner von uns.

Dem Mitgefühl wohnt eine Kraft inne, die so stark ist, dass sie die Herzen der Rücksichtslosen erweicht. Es heilt die Halsstarrigen, und sogar die schlimmsten Hassgefühle ergeben sich ihm widerstandlos. Wenn es denn ein Heilmittel gegen Feindseligkeit und Verachtung gibt, so kann es nur das Mitgefühl sein; einzig und allein das Mitgefühl besitzt die Stärke, Bitterkeit, Wut und Gewalt in ihr Gegenteil zu verkehren. Jemand, der Mitgefühl zeigt, ähnelt jenen Menschen mit Herz, die wie Engel sind und die Sprache der Sphäre des Jenseits sprechen. In seinem Eifer, den brodelnden Hass zu ersticken, darf man ihn mit einem Feuerwehrmann vergleichen. Wenn er die Sprache des Mitgefühls spricht, verlieren Unterdrückung und Feindseligkeit ihre Stimme. Die Hände derjenigen, deren Geist allein auf Zerstörung aus ist, werden zur Untätigkeit verurteilt, und viele Orientierungslose finden Rechtleitung. Jene aber, die es ablehnen, sich den rechten Weg weisen zu lassen, werden für ihre blinde Starrköpfigkeit einst von Gott bestraft werden.

Mitgefühl wirkt so sanft, dass es neue Horizonte öffnet. Durch sein Mitgefühl nimmt der Mitfühlende an Glück, Frieden und Freude anderer Menschen teil und versetzt sich in ihr Leid hinein, mit dem überwältigenden Wunsch zu helfen. In einer von Mitgefühl erfüllten Atmosphäre verbessern sich die zwischenmenschlichen Beziehungen schneller und fasst auch die Solidarität in der Gemeinschaft schneller Fuß. In einer solchen Atmosphäre begegnen die Menschen einander mit liebevoller Zuneigung. Individuen und Gruppen sind dort Muster an Freundlichkeit und Aufrichtigkeit, ganz als würden sie sich einen Wettstreit um die Eroberung der Herzen liefern. Das stärkt die Bindungen von Liebe und Sympathie zwischen den Menschen und lässt die unermessliche Freude, für andere zu leben, spürbar werden.

Aus anderer Perspektive betrachtet, ist Mitgefühl von größter Wichtigkeit, wenn es darum geht, den schweren Entbehrungen der Menschen mutig und entschlossen entgegenzutreten, Leid zu lindern und Quellen des Leids von vornherein zu beseitigen, indem man sie durch Freude und Glück ersetzt. In einem Menschen, dessen Herz im Takt der Barmherzigkeit schlägt, ist das Mitgefühl so fest verwurzelt, dass er sich allen Menschen und Geschehnissen mit größter Behutsamkeit nähert. Er umarmt die Leidenden wie eine mitfühlende Mutter, die ihre kleinen Kinder auf den Schoß nimmt. Und wie eine Vogelmutter, die mit den Flügeln schlägt, um zu ihrem Nest zurückzukehren und ihre Jungen zu füttern und zu schützen, wendet er sich in einem fort den Bedürftigen und Schutzsuchenden zu. Er opfert sich für sie auf, tut alles, um sie vor Schaden zu bewahren, und riskiert für sie sogar sein Leben.

Kein Zweifel, wenn wir intensiv über das Sein nachdenken und unsere Ohren öffnen, für das, was es uns aus seinem innersten Kern zuflüstert, dann werden wir begreifen, dass das Mitgefühl die gesamte Schöpfung umspannt und dass die Melodie des Mitgefühls überall zu hören ist. Das Universum mit allem, was es in sich birgt, ist aus Mitgefühl gewoben, und erst das Mitgefühl schenkt dem Erschaffenen seine essenzielle Schönheit.

Gottes Mitgefühl hat zum Beispiel den Bäumen konkrete Formen verliehen, und die Früchte dieser Bäume sind Verkörperungen von Gottes Barmherzigkeit und Gnade. Jeder Mensch ist ein Spiegel der Barmherzigkeit Gottes, und der Glaube ist strahlendes göttliches Mitgefühl. Diese vergängliche Welt führt uns zur ewigen Glückseligkeit, und in der kommenden Welt wird das Mitgefühl in seiner ganzen Pracht und Herrlichkeit enthüllt werden. Barmherzigkeit und Mitgefühl bilden ohne jeden Zweifel Anfang und Ende aller Dinge.

Wenn man die Erzählungen von so herausragenden Persönlichkeiten wie den Propheten, den rechtschaffenen Gelehrten und den Freunden Gottes wirklich versteht, wird man zweifelsfrei erkennen, dass ihre strahlenden Biografien von Mitgefühl durchströmt sind. Sie haben als Helden des Mitgefühls gelebt; aus Mitgefühl haben sie gehandelt, und aus Mitgefühl haben sie manchmal auch nichts unternommen. Denn wenn das Mitgefühl ein leuchtender nach oben gewandter Korridor ist, der uns Menschen in die Himmel trägt, dann sind diejenigen, deren Herzen im Takt des Mitgefühls schlagen, wie Schwalben, die in Schwindel erregenden Höhen ihre Kreise ziehen. Niemand hat jemals einen dieser von Gott beschenkten, gesegneten Reisenden auf ihren himmlischen Rössern auf Abwege geraten sehen. Von jenen hingegen, deren Herzen im Takt von Hass, Groll und Unbarmherzigkeit schlagen, erreicht keiner jemals sein Ziel. Den Worten des Gesandten Gottes zufolge ist eine unmoralische Frau ins Paradies eingegangen, weil sie Mitleid mit einem durstigen Hund hatte und ihm zu trinken gab. Eine andere unglückselige Frau indessen wurde in die Hölle verbannt, weil sie ihre Katze so lange nicht aus dem Haus ließ, bis diese schließlich verhungerte. Insofern ist das Paradies ein Palast des Mitgefühls, die Hölle aber ein Kerker aus Wut und Hass. Geradeso wie jede auf Erden verrichtete gute Tat im Paradies auf denjenigen wartet, der sie gewirkt hat, werden die Sünder in der Hölle mit jedem einzelnen Unrecht konfrontiert werden, das sie begangen haben.

Zwar sind Mitgefühl und Hass beides Realitäten dieser Welt, doch die Essenz allen Seins liegt zweifelsohne im Mitgefühl. Sonst wären weder wir Menschen noch irgendetwas sonst dazu in der Lage, eine Existenz zu erlangen und diese Existenz auch zu bewahren. Ohne Mitgefühl würde nach und nach alles zusammenbrechen und vergehen; die gesamte Schöpfung würde in einer Spirale des Chaos zugrunde gehen. Allerorten wären Wehklagen des Leides und der Verzweiflung zu vernehmen. Überall würden Schreie gellen, heraufbeschworen durch Boshaftigkeit und Infamie. Die ganze Welt würde sich in einen Ort des Elends verwandeln. Wenn wir bis heute existiert haben und auch weiterhin existieren werden, dann einzig und allein deshalb, weil das Mitgefühl des Barmherzigen Einen es zulässt. Wenn wir andere Menschen lieben und von anderen Menschen geliebt werden, so verdanken wir dies ausschließlich Seiner Gnade.

Mehr als alles andere ist es das Mitgefühl, das unsere Herzen belebt und uns menschliche Empfindungen zuteil werden lässt. Tief in unserem Innern bestärkt es uns, Gutes zu tun, andere zu akzeptieren und sie zu unterstützen. Im Lichte der Barmherzigkeit und des Mitgefühls Gottes erweist sich ein von Mitgefühl beschwingtes Herz stets als außerordentlich großzügig, es übt sich in reinem und schönem Anstand und pflegt aufrichtig zu handeln. Ein mitfühlender Mensch wandert auf dem Pfad der Liebe, und dabei spornen ihn Tugend und Güte an, Gutes zu tun. Je mehr Mitgefühl wir aufbringen, desto aufmerksamer wendet Sich Gott der Allmächtige uns zu. Er weitet uns die Brust und überschüttet uns mit außergewöhnlichen Gunstbeweisen. Die Tage, die uns mit Mitgefühl erfüllen und uns vor unbedachtem, rohem Gehabe schützen, liegen hoffentlich nicht mehr in allzu ferner Zukunft.

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