Tahqiq (Verwirklichung)
Die allgemeine Definition des Begriffes Tahqiq umfasst das Erforschen und Untersuchen einer Sache, ob sie wahr und richtig ist und im Weiteren das Ergründen und das Untermauern mit unwiderlegbaren Beweisen. Im Wortgebrauch des Sufismus bedeutet Tahqiq (Verwirklichung), dass ein Eingeweihter, der fast am Ziel seiner Reise angelangt ist, den Ewig von allem Angeflehten Einzigartigen Einen in Seinem Sein und mit Seinen vollkommenen Attributen so kennt, wie Ihn der Koran präsentiert, dass er darüber hinaus aber auch (abseits aller Modalitätskonzepte) den Kern der Göttlichkeit Gottes und Seine besonderen Manifestationen im eigenen Bewusstsein und in anderen spirituellen Fakultäten erspürt. Wer diese Stufe erklommen hat, darf fortan seinen Fähigkeiten entsprechend am Horizont des Reisens zu Gott hin (Seyr fillah) oder von Gott weg (Seyr minallah) voranschreiten, ohne noch jemals von Zweifel und Zögern befallen zu werden. Diese Menschen haben dann nicht länger den Eindruck, auf Gottes Geheiß hin von Finsternis umfangen zu werden, denn sie sehen mit Gottes Sehvermögen, hören mit Seinem Hörvermögen und fühlen so, wie es Seine Attribute bedingen. Mit anderen Worten: Sie kommen nie mehr vom Weg Gottes ab, leben ihr Leben um Seinetwillen und sind der Tatsache gewahr, dass sie immer von Ihm begleitet werden. Ihr Rang gilt als der Rang des Von-Gott-geliebt-Werdens und ist ein besonderes Geschenk des Geliebten Einen. Wer diesen Rang innehat, wird von dem Allmächtigen geliebt und als Reflexon dieser Liebe auch von den Himmelsbewohnern und von allen Erdbewohnern mit einem aufrichtigen Herzen. Das nach außen sichtbare Zeichen dieser unsichtbaren Liebe Gottes ist eine besonders hohe Wertschätzung der über das Mindestmaß hinausgehenden Akte der Anbetung sowie die fehlerlose Verrichtung der obligatorischen Akte der Anbetung.
Wahrheitsliebende Menschen, die die obligatorischen Akte der Anbetung gewissenhaft und minuziös verrichten, verpasste Gebete später mit aufrichtig empfundenem Bedauern nachholen und auch sehr darauf bedacht sind, die freigestellten Akte der Anbetung zu leisten, sind sich der Anwesenheit Gottes, der Wahrheit, zu jeder Zeit bewusst. Sie sehen die Wahrheit, setzen sich für die Wahrheit ein und gehen der Wahrheit entgegen. Undenkbar, dass etwas anderes als die Wahrheit einen Weg in das Herz dieser Menschen fände oder dass sich ihre Augen von etwas anderem, das ihr Herz begehrte, gefangen nehmen ließen. Und wenn dennoch von Zeit zu Zeit eine Wolke ihren Horizont trübt, dann kommt und geht sie wie ein Frühlingsnebel und verweist nur darauf, dass sich ihr Geist nochmals geweitet hat. Diese Menschen vervollkommnen sich immer weiter, egal ob sie in Trauer sind oder frohlocken. Ismail Haqqi Bursewi beschreibt sie wie folgt:
Die Wahrheitsliebenden haben offenbar mit ihrer Seele erfasst,
Dass das Licht der Wahrheit der Schöpfung sehr nahesteht.
Die Wahrheit erklärt: „Er hört durch Mich und sieht durch Mich“,
Wenn jemand, der aus Wasser und Lehm erschaffen wurde, Sein Licht entdeckt hat.
Hätte dieser Mensch aus Wasser und Lehm nicht zu jenem Reinen Licht gefunden,
So wäre diese Aussage nicht so deutlich formuliert.
Diese Menschen des Herzens, die zum Licht gefunden haben,
Sind nicht an Ost und West gebunden. Sie sind zum Leuchtturm Seines Lichtes geworden.
Diese Menschen der Wahrheit sind auf die Einheit in der Vielfalt gestoßen,
Sie sind sicher und behütet, sie blühen auf.
O Haqqi, unterwirf dich der Wahrheit, und vertraue Ihm deine Anliegen an.
Dann wirst Ihn finden, den Einen, der tut, was Er will.
Welch Exzellenter Helfer Er doch ist!
Aus einer anderen Perspektive betrachtet beinhaltet der Begriff Verwirklichung, dass die Eingeweihten ihren Glauben mit Hilfe der Gotteserkenntnis und ihre Gotteserkenntnis mit Hilfe der Liebe zu Ihm vertiefen und dass sie auf allen Stationen, zu denen sie gelangen, allein die Zustimmung und das Wohlgefallen Gottes anstreben. Diese erhabene Wahrheit wird auf jeder Etappe der spirituellen Reise anders empfunden. Denn Glaube, Erkenntnis, Liebe und Sehnen des Reisenden stehen in unmittelbarem Zusammenhang zu den unterschiedlichen Graden der Gewissheit in Glauben, Erkenntnis und Gottesliebe; und die spirituellen Genüsse, die ihm zuteilwerden, sind Resultate unterschiedlicher Grade der Verwirklichung. Ein Glaube, der auf theoretischem Wissen basiert, kann, wie in dem Hadith Etwas zu hören ist, nicht gleichbedeutend damit, es zu sehen betont wird, niemals die gleiche Gewissheit besitzen wie ein Glaube, der auf Sehen und spiritueller Erkenntnis beruht; auch dann nicht, wenn der Gegenstand dieser letzteren Art von Glaube und Gewissheit zur Welt des Verborgenen gehört. Eine Gewissheit, die theoretischem Wissen entspringt, unterscheidet sich erheblich von einer tiefen Überzeugung, die im Herzen verwurzelt und zu einem festen Bestandteil des menschlichen Wesens geworden ist. Verglichen mit der Gnade Gottes, die man auf dem Weg der Verwirklichung erwarten darf, kann ein theoretisches Wissen nicht mehr sein als eine Handelsware von geringem Wert. (12:88)
Eine Gewissheit, die auf Sehen und spiritueller Erkenntnis beruht, mag zwar ebenfalls relativer Natur sein, sie kann aber durch die Freigebigkeit des Freigebigen Einen zum Erblühen gebracht werden. Was die tiefe Überzeugung betrifft, so ist sie die reine Frucht, ja sogar der Saft, den die Strahlen der Existenz Gottes als Erstes aufgelöst haben und dem dann eine neue Existenz mit anderen Merkmalen geschenkt wurde.
Ein Hinweis auf die Verwirklichung findet sich in der vom Propheten Abraham geäußerten Bitte „Mein Herr, lass mich sehen, wie Du die Toten wieder zum Leben bringst!“ und in der Begründung für diese Bitte: Gott sagte: „Warum, glaubst du denn nicht?“ Abraham sagte: „Doch! Aber um mein Herz zu beruhigen“ (2:260). Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass wir die Gewissheit dieses erhabenen, bedeutenden Gesandten nicht zu ermessen vermögen – weder die Gewissheit, die seinem theoretischen Wissen entstammt, noch die, die auf seinem Sehen und Beobachten oder seiner Erfahrung gründet. Andererseits erscheint es mir durchaus legitim, seine Gewissheit als Vergleichsgröße heranzuziehen. Weil es Menschen gibt, die die Gewissheit Abrahams oder ganz allgemein die Gewissheit der Propheten insgesamt in Zweifel ziehen, möchte ich hier ein Zitat des Propheten Muhammed anführen, der diesbezüglich sagte: Wir sind anfälliger gegenüber solch einem Zweifel als Abraham.[1] Jeder Mensch verfügt über seinen eigenen Horizont und seine eigene höchste Gewissheit, die seinen individuellen Kapazitäten entspricht, und jeder Mensch braucht genau so viel Sicherheit und Klarheit, wie es sein individueller Horizont erfordert. Noch der minimalste Grad an Gewissheit eines Propheten liegt weit über dem höchsten Grad des in spiritueller Hinsicht vollkommensten aller übrigen Menschen.
Die Vorbilder an Verwirklichung wenden sich mit Glauben, Liebe, Sehnen, Eifer und spirituellem Genuss ganz dem Wesen Gottes zu. Sie akzeptieren nichts anderes als Seine Zustimmung und Sein Wohlgefallen als ihr einziges Ziel. Weder gelten ihnen die Sturmwinde Seiner Majestät als eine Quelle des Leids noch die Brisen Seiner Gnade als eine Quelle des Genusses. In ihren Augen ist alles, was von Gott kommt, ein und dasselbe – sei es Tadel oder Ermunterung. Sie betrachten die Art und Weise, wie Er mit ihnen verfährt, als eine Notwendigkeit, die ihr Weg zu Ihm mit sich bringt, und alles andere als das wahre Ziel, dem sie sich verpflichtet haben, als einen flüchtigen Schatten, von dem sie sich nicht beeindrucken lassen. Ihre Entschlossenheit, Ihm eines Tages zu begegnen, kennt keine Grenzen.
Die Vorbilder an Verwirklichung ertragen allen Kummer, widerstehen allen sinnlichen Impulsen und halten sich gewissenhaft an die Gebote und Verbote der Religion. Mit ‚Ihm‘ als einzigem Ziel streben sie dem Himmel entgegen, und mit jedem neuerlichen Bemühen und jeder neuen Manifestation der Zustimmung Gottes, die sie an jeder Weggabelung und an jeder Station erfahren, fühlen sie sich mehr willkommen. Sie spüren, dass in ihren äußerlichen und inneren Sinnen Melodien wie diese erklingen:
Die Höchste Wahrheit ist es, die mich gerufen hat:
„Komm, du Liebender, du bist wohl vertraut mit Uns!
Dies ist der Ort der Vertrautheit;
Ich habe in dir einen Getreuen gesehen.“
Nesimi
Dies ist wahrlich ein so hoher Rang, dass derjenige, der ihn erreicht hat, fühlt, dass sein Glaube von Gott kommt, geradeso wie auch sein Wissen, seine Liebe und seine Begeisterung von Ihm kommen. Das eindrucksvolle Eingeständnis "Wir haben kein Wissen außer dem, was Du uns gelehrt hast" (2:32) bestätigt dieses Gefühl, und die einzige Wahrheit, die sein Bewusstsein wirklich durchdringt, lautet: Er ist der Beständige, der Ewige, der Immerwährende. Bis der Eingeweihte diesen Rang erreicht, bleiben seine Augen und Ohren an vielen Dingen haften. Wenn er aber diese höchste Stufe erklommen hat und sich sein spiritueller Zustand in eine dauerhafte Station verwandelt, schmilzt sein menschliches Wesen dahin, und er sagt: Wem gehört an diesem Tag die vollkommene Herrschaftsgewalt? Es ist Gott, der Einzige, der Allmächtige Bezwinger (40:16). Von allen Seiten stürmt folgende Wahrheit auf ihn ein: Doch es bleibt das ‚Angesicht‘ Deines Herrn, des Besitzers von Majestät und Ehrwürdigkeit (55:27).
Das menschliche Denkvermögen, das die Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterteilt hat, verliert sich in der Wahrheit der Worte "Du bist der Erste, niemand war vor Dir da; und Du bist der Letzte, nach dem niemand kommen wird.[2]" Es kommt sogar vor, dass das Bewusstsein den Eingeweihten seine relative Existenz vergessen lässt und ihm gestattet, tief in die Bedeutung der Worte "Da war Gott, ohne dass es etwas gegeben hätte, was mit Ihm existierte[3]" einzutauchen. Dann flüstert er: „Es gibt weder Vereinigung noch Inkarnation. Das wahre Sein gehört Dir allein, und alles andere ist ein Schatten Deines Lichtes.“ Diese Menschen fühlen sich geehrt, auf Ihn zurückgeführt zu werden. Trotz ihrer Bescheidenheit, Anspruchslosigkeit und Genügsamkeit schmecken sie im Geiste die Wohltat, das beste Muster der Schöpfung darzustellen.
O Gott! Wir bitten Dich um Vergebung, Gesundheit, Zustimmung und Gunst, um die Brisen Deiner Freundschaft und Deine Liebe und Begleitung. Dein Segen und Frieden sei auf unserem Meister Muhammed, Deinem Diener und Gesandten, und auf seinen Gefährten, die Dich geliebt und ihn Dir nahegebracht haben!
[1] Bukhari, Tefsir Surat el-Baqara, 2; Muslim, Iman, 238
[2] Muslim, Dhikr, 61; Abu Dawud, Edeb, 98
[3] Bukhari, Tewhid, 1; Ibn Hanbel, Musned, 4:431
Die Fontäne, April-Mai-Juni 2017
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